Kultur





Im Duett mit Basya, Yeshaya und Shmuel

Text: Karen Horn

Foto: Shendl Copitman Kovnatskiy

Die Sängerin Inge Mandos erweckte mit ihrem Ensemble verschollenes jiddisches Liedgut auf fantasievolle Weise zu neuem Leben. Dank moderner Tontechnik sind die historischen Musiker mit von der Partie

Es rumpelt und rauscht, kratzt und knarzt. Man hört die rostig anmutenden, stark verzerrten Stimmen von Basya Fayler, Yeshaya Korn, Shmuel Bronshvayg, Rakhmiel Grin und anderen – allesamt Musiker aus den einstigen jüdischen Schtetl in Osteuropa. Sie singen schlichte Lieder vom Alltag, von Freud und Leid, zart und innerlich, mal fröhlich, mal betrübt. Es geht um Großes wie die Liebe, Leben und Tod, den Glauben, Aufbruch und Abschied. Es geht aber auch immer wieder um Kleines wie Strohschuhe oder die herrlichen „Latkes“, die zu Chanukka von der Frau des galizischen Rabbis gebackenen Kartoffelpfannkuchen – eine Kindheitserinnerung Nokhem Shternheims, eines der Urväter des weltlichen jiddischen Lieds. Es ist ein berührender Gruß aus einer anderen Zeit, einer anderen, verloren gegangenen Welt.

Inge Mandos holt sie in die Gegenwart. Die Hamburger Sängerin trägt die Lieder heute im Duett mit den historischen Sängern vor, über die vergangene Zeit mit ihrem ganzen Grauen hinweg. Sie hat vor fünf Jahren gemeinsam mit dem Pianisten und Akkordeonisten Klemens Kaatz und dem Violinisten Hans-Christian Jaenicke das Projekt „WAKS“ ins Leben gerufen. Das Trio will die Musiker, von denen die meisten dem Nazi-Terror zum Opfer fielen, dem Vergessen entreißen. Und es will durch einen so sensiblen wie kreativen Umgang mit dem teilweise noch unbekannten jiddischen Liedgut eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart bauen. „In dieser Zeit, wo der Antisemitismus aus allen Ecken gekrochen kommt, ist es mir ein Anliegen, diese Kultur wieder auf die Bühne zu bringen“, sagt Inge Mandos. Die spät berufene, begabte Sängerin ist studierte Historikerin und Germanistin, war früher Lehrerin und beschäftigt sich seit Langem intensiv mit jüdischer Kultur und jiddischer Sprache.

„In dieser Zeit, wo der Antisemitismus aus allen Ecken gekrochen kommt, ist es mir ein Anliegen,
diese Kultur wieder auf die Bühne zu bringen.“
Inge Mandos

Den Anstoß zu dem Projekt gab das 2008 erschienene Buch „Unser Rebbe, unser Stalin...“ der damals an der Universität Potsdam tätigen Literaturwissenschaftlerin Elvira Grözinger und der Musikwissenschaftlerin Susi Hudak-Lazic. Es liefert unter anderem die originalen Klangdokumente sowie Text- und Notentranskriptionen einer Auswahl aus mehr als 600 jiddischen Liedern und Musikstücken, welche die sowjetischen Musikethnologen Moishe Beregowski und Sofia Magid zwischen 1928 und 1941 auf Expeditionen durch die Schtetl der Ukraine und Weißrusslands auf Wachswalzen aufgenommen hatten. Lange galten diese Wachswalzen – ein recht primitives, kurzlebiges Aufnahmemedium – als verschollen; ihre Wiederentdeckung in St. Petersburger Archiven war somit eine kleine Sensation. Doch sie sind zum Teil stark beschädigt, sodass von manchen Liedern nur noch Bruchstücke erhalten sind. Als Inge Mandos die Tonaufnahmen zu Ohren kamen, wusste sie sofort: „Ich will in Gemeinschaft mit diesen Menschen singen.“ Sie begann, die Lieder nach dem Gehör einzustudieren, und kam rasch auf die zündende Idee: Warum nicht die Lücken in dem bestehenden Material textlich, kompositorisch und stimmlich behutsam füllen und so aus den Bruchstücken wieder aufführbare, aber neu interpretierte Lieder machen? Gedacht, getan. Gemeinsam schaffen Jaenicke, Kaatz und Mandos seither neue fantasievolle Arrangements, die das alte Tonmaterial aufgreifen, erweitern und im Studio mit den Originalen ergänzen. Die jiddischen Sänger von einst werden durch die moderne Technik gleichsam zu Mitgliedern des Ensembles. „Sie sind uns dadurch sehr nahegekommen“, sagt Inge Mandos, denn „über die Stimme wird viel Seelisches transportiert“. Wenn sie sich mit ihnen ins Duett begibt, lässt sie den alten Stimmen den Vortritt, übertönt sie nicht, sondern stärkt, stützt, entzerrt und ergänzt sie mit ihrer warmen lyrischen Stimme zurückhaltend. Wer das hört, dem ist die Gänsehaut sicher.

Im Jahr 2015 kam dank dieser Technik die CD „WAKS“ heraus, und 2019 folgte „OVES“ (Vorfahren) mit bis dahin völlig unbekannten jiddischen Liedern. Auf dieser zweiten CD sind als Gäste auch die Sänger Efim Chorny und Stella Jürgensen, der Klarinettist Merlin Shepherd und die Kontrabassistin Maria Rothfuchs mit von der Partie. Wieder werden Melodien weitergesponnen, wieder treten die Sänger von heute in einen Dialog mit den alten, trotz der Verzerrungen durch die Wachswalzentechnik kunstvollen Stimmen. Außerdem hat Inge Mandos den wiederentdeckten Texten der Warschauer Dichterin Helena Neuman-Grin Melodie und Stimme geschenkt. Auch einige verschollene Lieder Nokhem Shternheims bringt das Ensemble neu zu Gehör.

Inhaltlich erreichte das Projekt, eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart zu bauen, mit „OVES“ einen neuen Meilenstein. Denn Inge Mandos ist es gelungen, Nachfahren einiger Menschen aufzuspüren, die auf den Wachswalzen singen, und sie hat ihnen die Stimmen ihrer Vorfahren gebracht. In Tel Aviv lernte sie Yehudith Shalev und Nekhama Biederman kennen, Nichten des Ehepaars Rakhmiel Grin und Helena Neuman-Grin. Shalev übersetzt deren Werke ins Hebräische und brachte Mandos mit der Genealogin Ayana Kimron in Kontakt. Mit deren Hilfe machte sie unter anderem Tzafi Fishbein ausfindig, die Großnichte des, wie sie sagt, „fahrenden Troubadours“ Nokhem Shternheim, sowie die Nichte und Großnichte Basya Faylers im fernen Australien. Sie besuchte in Israel die Tochter des bedeutenden Synagogensängers Shmuel Bronshvayg, der den Holocaust überlebt hat, Genia Dubinsky. Sie brachte der gerührten Mittneunzigerin dessen Nigunim mit, von ihm eingesungene Melodien ohne Text. Das Ziel der Hamburger Sängerin für die Zeit nach der Pandemie ist klar: noch mehr Nachfahren dieser Menschen finden, die ihr ans Herz gewachsen sind.

In Deutschland dieses Stück jiddische Kultur weiterzuverbreiten und es mit einem kreativen Ansatz im modernen musikalischen Alltag anschlussfähig zu machen, bleibt Inge Mandos dabei ein Herzensanliegen. Mit WAKS geht sie dafür auch regelmäßig auf Tournee. In Coronazeiten nutzt sie die Möglichkeiten des Internets, wo es geht, unter anderem mit einem ge­streamten Werkstattgespräch im Rahmen des Festjahrs „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. ­Yeshaya Korn, Shmuel Bronshvayg und die anderen osteuropäischen Musiker von einst sind natürlich immer mit dabei. Nicht sichtbar, aber eben hörbar. Mit ihrem Einsingen der Lieder auf Wachswalzen hofften sie dazu beizutragen, die Tradition des jiddischen Liedes zu erhalten. Und jetzt tragen sie diese wunderschönen, tief bewegenden Stücke sogar selbst mit vor.

Karen Horn lehrt ökonomische Ideengeschichte und Wirtschaftsjournalismus an der Universität Erfurt. Zudem ist sie Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“ (PWP).

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