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Wider die Entfremdung

Die Freiburger Thesen warnten vor 50 Jahren vor einer Polarisierung zwischen konservativer Erstarrung und sozialistischer Utopie – und sind verblüffend aktuell. Im Kampf gegen den Populismus von heute sind die Strategien von damals wieder gefragt.

Text: Michael Zürn
Illustration: Emmanuel Polanco

Bei vielen Menschen entsteht der Eindruck, sie würden von der Politik nicht länger wahrgenommen.
Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance,
dass ihre Anliegen gehört und politisch verwirklicht werden.

Die Freiburger Thesen waren ein Fanal. Sie etablierten im Parteiprogramm der FDP die Gleichursprünglichkeit (Habermas) der liberalen Freiheitsrechte und der demokratischen Herrschaft. Demnach bedeutet Freiheit für den modernen Liberalismus „nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten autonomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt“ (Einleitung zu den Freiburger Thesen). Im Bewusstsein, dass negative Freiheiten eingeschränkt werden müssen, um positive Freiheiten zu ermöglichen, zielte dieses Programm in vier großen Teilen auf eine Reform der Eigentumsordnung − inklusive Enteignungen, Vermögensbeteiligung, betrieblicher Mitbestimmung und aktiver Umweltpolitik.

Dritter Weg zwischen Erstarrung und Utopie

Die Freiburger Thesen waren nicht nur fortschrittlich, sondern auch weitsichtig. Zu verstehen sind sie vor dem Hintergrund einer Zeitdiagnose, die bedrückend aktuell klingt. Auf dem Freiburger Parteitag beschrieb Karl-Hermann Flach die Lage wie folgt: „Wenn wir zwischen konservativer Erstarrung und sozialistischer Utopie nicht einen dritten Weg der liberalen Gesellschaftsreform aufzeigen würden, dann müßte dieses Land in eine Periode unerträglich politischer Polarisierung geraten, mit allen unheilvollen Folgen für die Liberalität, Humanität und für den Bestand dieser Demokratie.“ Man ersetze die konservative durch die technokratisch-bürokratische Erstarrung und die sozialistische Utopie durch die autoritär-populistische Konstruktion eines Mehrheitswillen des Volkes, und schon sind wir in der Gegenwart. Nicht nur die Zeitdiagnose ist auf heute übertragbar, sondern auch die Strategie zur Überwindung der Konfrontation: Demokratisierung der Demokratie und Stärkung der positiven Freiheitsrechte.

In den Achtzigerjahren beschleunigte sich die Globalisierung. Sie führte zum Untergang der sozialistischen Welt unter sowjetischer Führung und zu wirtschaftlichen Aufholprozessen in Teilen des globalen Südens. In den westlichen Demokratien wurde die gesellschaftliche Transformation und Denationalisierung vorangetrieben. Damit sind neue Konfliktlagen entstanden. Die ökonomische Ungleichheit hat zugenommen, es gibt immer mehr Verlierer und Verliererinnen der Globalisierung. Dies bietet – so eine gängige Argumentation – einen Nährboden für die Lockrufe des autoritären Populismus. Gleichzeitig verschärfen sich die Auseinandersetzungen über soziokulturelle Lebensformen. Die Hegemonie der städtischen, multikulturellen und kosmopolitischen Lebensform stoße, so ist zu hören, auf wachsenden Widerstand der Menschen mit ländlicher, homogener und ortsgebundener Lebensweise.

In Zweiparteiensystemen mit Mehrheitswahlrecht wie in den Vereinigten Staaten bündeln sich diese Konflikte bisher in der Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien. Eine potenziell gesellschaftssprengende Polarisierung − wie sie schon Flach befürchtete − ist die Folge. In Mehrparteiensystemen mit Verhältniswahlrecht wie in der Bundesrepublik führt dies zunächst zu einer Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft. Der politische Raum ist (mindestens) zweidimensional geworden und schafft Platz für vier und mehr Parteien. Aber auch hier zeichnet sich eine tieferliegende Polarisierung ab.

Die beiden beschriebenen Konfliktlagen manifestieren sich in einer Auseinandersetzung über das politische System, seine demokratische Beschaffenheit und Offenheit. Erst der politisch selektive Umgang mit den gesellschaftlichen Veränderungen, der sich insbesondere in den Krisen seit Beginn des Jahrtausends zeigte, provozierte eine populistische Abwehrreaktion: Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen werden gleich gut repräsentiert, und die Interessen der Ressourcenreichen werden stärker berücksichtigt. Eine genuin politische Erklärung des Populismus muss an den realen Repräsentationsdefiziten der liberalen Demokratie ansetzen.

Vor allem zwei Mechanismen sorgen dafür, dass politische Entscheidungen Bessergestellte begünstigen. Zum einen singt der Chor der demokratischen Repräsentantinnen nach wie vor „mit einem heftigen Oberklassenakzent“ (Schattschneider). Die mangelnde Responsivität der Parlamente in liberal-demokratischen politischen Systemen hat durch die Globalisierung noch zugenommen. Das ist es auch, was die autoritär-populistischen Parteien lauthals beklagen. Im Zentrum ihrer Kritik steht, dass die repräsentative Demokratie, die „Systemparteien“ und die Medien kein Ohr mehr für den einfachen Mann (!) haben. Die Rhetorik der Gegenüberstellung von einfacher Bevölkerung und korrupten Eliten entstammt diesem Hintergrund.

Das System als Zielscheibe des Populismus

Zum anderen sind in den zurückliegenden drei Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen von Mehrheitsinstitutionen wie Parteien und Parlamenten hin zu Zentralbanken, Verfassungsgerichten sowie supranationalen Institutionen verlagert worden, also zu Einrichtungen, die weder dem Mehrheitsprinzip noch den Rechenschaftspflichten repräsentativer Gremien unterliegen. Ihr Zweck besteht oft darin, den dreifach einseitigen Liberalismus aus individuellen Rechten, internationalen Regeln und freien Märkten durchzusetzen. Je mächtiger sie werden, desto schwieriger wird es, die Responsivität gegenüber den Präferenzen weiter Teile der Bevölkerung zu erhalten. Solche Veränderungen in den politischen Systemen liegen der demokratischen Regression zugrunde.

Vor diesem Hintergrund entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, sie würden von der Politik nicht länger wahrgenommen. In der Tat haben nicht alle Gruppen die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch verwirklicht werden. Insofern konnte sich die Vorstellung ausbreiten, es gäbe eine homogene politische Klasse, die abgehoben von der Bevölkerung ihr Ding mache und den Interessen einer verwöhnten, tendenziell korrupten kosmopolitischen Schicht diene. Dementsprechend ist auch gar nicht eine bestimmte ökonomische oder kulturelle Politik die Zielscheibe der allermeisten autoritär-populistischen Kampagnen, sondern das System, das sie hervorbringt. In der Folge sehen wir eine doppelte Entfremdung: eine abstrakte Entfremdung der politischen Prozesse vom demokratischen Ideal und eine konkrete Entfremdung (ortsgebundener) Menschen von den demokratischen Institutionen.

Wenn diese Diagnose zutrifft, dann wurden bereits mit den Freiburger Thesen der Stoff entwickelt, der uns vor der Verschärfung der Lage schützen kann. Es geht zum einen darum, den generationenübergreifenden Aufbau von unüberwindbaren sozioökonomischen Ungleichheiten zu überwinden, welche die liberale Idee der gleichen Freiheit unterminieren. Die Freiburger Thesen stellen dabei die beiden gerade heute noch zentralen Themen in den Vordergrund: die Begrenzung der Weitergabe von Reichtum über Generationen hinweg und den Vermögensaufbau der arbeitenden Bevölkerung. Wenn die Freiburger Beschlüsse zum Aufbau von Betriebsanteilen in der Belegschaft damals politisch umgesetzt worden wären, dann wäre die Beobachtung des Ökonomen Thomas Piketty, dass die Kapitalrenditen längst wieder schneller wachsen als das Arbeitseinkommen, von deutlich geringerer Sprengkraft.

Wir brauchen ein Update der Freiburger Thesen

Die Freiburger Thesen haben auch sehr weitsichtig darauf aufmerksam gemacht, dass die generationenübergreifende Festschreibung von Ungleichheiten das Leistungsprinzip untergräbt. Das Leistungsprinzip ist aber in der liberalen Gesellschaft das einzige Prinzip, das Ungleichheit rechtfertigen kann. Wenn es durch die Weitergabe von gesellschaftlichen Privilegien untergraben wird, führt uns das zurück in die Ständegesellschaft und entzieht dies der liberalen Gesellschaft eine grundlegende Legitimations-Ressource. Deswegen führen die sozioökonomischen Positionen der liberalen Partei in Deutschland zu anti-liberalen Effekten.

Es geht auch und vor allem darum, die Demokratisierung voranzutreiben und die Politik wieder responsiv gegenüber breiten Teilen der Bevölkerung zu machen. Auch das war ein zentrales Anliegen der Freiburger Thesen. Damals ging es um die Demokratisierung der Gesellschaft. Vierzig Jahre später geht es darum, jene politischen Institutionen zu demokratisieren, die notwendige Funktionen erfüllen, dabei aber der politischen Auseinandersetzung entzogen sind. Was wir heute brauchen, ist ein Update der Freiburger Thesen: eine Wiederbelebung und Aktualisierung des Geistes und der Forderungen von 1971.

Die ganze Publikation

können Sie online lesen.

Michael Zürn

ist Direktor der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Internationale Beziehungen an der dortigen Freien Universität. Zuletzt verfasste er mit Armin Schäfer das Buch „Die demokratische Regression“ (2021, Suhrkamp).

Foto: Martin Funck

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