Deutschland nach der Wahl

Aus der Mitte entspringt der Fluss

Waren die Bundestagswahlen wirklich eine historische Zäsur? Mitnichten. Sie haben eine erstaunliche Kontinuität in der politischen Grunderwartung der Deutschen offenbart.

TEXT: WOLFRAM EILENBERGER

Deutschland nach der Wahl

Aus der Mitte entspringt der Fluss

Waren die Bundestagswahlen wirklich eine historische Zäsur? Mitnichten. Sie haben eine erstaunliche Kontinuität in der politischen Grunderwartung der Deutschen offenbart.

TEXT: WOLFRAM EILENBERGER

Es war mitten im Ruhrgebiet, vor knapp einem Jahr. Ich saß sinnierend auf der Terrasse hinter dem Wohnhaus von Bodo Hombach, ehemals Bundesminister für besondere Aufgaben in der ersten Regierung von Gerhard Schröder. Die Herbstsonne gab ihr Bestes. Auf der wundersam renaturierten Ruhr tanzten blinkend die Flussgeister – mal tiefgrün, mal hellgelb, je nach dem Winkel der Betrachtung. Wir sprachen über Schalke und China, CO2 und Covid-19, Kontingenz und Solidarität, vor allem aber über die Bundestagswahl.

„Im Prinzip“, so erklärte mir mein sozialdemokratischer Gastgeber, „ist die politische Grunderwartung des Wahlvolkes in diesem Land seit den Siebzigerjahren absolut stabil: Deutschland ist ein sozialliberales Land.“ Die eigentlich entscheidende Wahlkampffrage bestehe stets darin, wem es gelinge, diesen gesellschaftsprägenden Grundkonsens am effektivsten aufzugreifen und ihm zu entsprechen.

Immer wieder musste ich in den vergangenen Wochen an Hombachs Kontinuitätsthese zurückdenken, an diese so erfahrungsgesättigte wie nüchterne Perspektive auf einen Wahlausgang, den große Teile der Berliner Republik inzwischen zu einem veritablen Wegscheideereignis dramatisieren, einem radikalen Bruch, ja zum unwiderruflichen Schritt in eine gewandelte politische Landschaft. Gewiss, das absehbar regierende Farbenspiel ist nun ein wesentlich lebendigeres als noch vor dem 26. September. Doch die grundierende Politikerwartung einer stabil überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung erweist sich seit mehr als einem halben Jahrhundert als kaum verändert.

Diese zeigt sich auch im Jahr 2021 als eine durch und durch sozialliberale Grunderwartung – was im zeitgeistbestimmenden Resonanzfeld von kollektiver Coronatraumatisierung, apokalyptisch geframter Klimadringlichkeit sowie neu anschwellender Immigrationsängste durchaus als politisches Wunder begriffen werden darf. Das gilt in besonderem Maße auch mit Blick auf die drei großen europäischen Bezugsländer der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien und Italien, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten massive Erschütterungen und Transformationen nicht nur ihrer jeweiligen Parteienlandschaft, sondern auch der populistisch geschärften Wahlerwartungen der Bevölkerung zu bewältigen hatten.

Radikale Mitte

Die These einer dauerhaften und bis heute gewahrten, sozialliberalen Tiefeneinbettung liefert auch die plausibelste Erklärung für die faktische Prozenthalbierung der Grünen innerhalb nur weniger Wahlkampfmonate. Was die Wählerschaft demnach eigentlich verschreckt hat, ist weniger deren offenbar überforderte Kandidatin als vielmehr die Botschaft „Bereit, weil ihr es seid“. Für die zentrierte Mehrheit der Bevölkerung klang dies dann wohl doch zu sehr nach einer grundlegenden Veränderung der politischen Kultur in einer Zeit, in der es nach allgemeiner Wahrnehmung tatsächlich so viel zu tun gibt wie nie.

Auch die Tatsache, dass sich die Erstwähler und Erstwählerinnen des Jahres 2021 nahezu perfekt austariert vorrangig für FDP und die Grünen entschieden (beide bei gut 23 Prozent), passt zur Kontinuitätsthese. Offenbar ist selbst die Wahljugend der Gegenwart willens, das eigentliche regierende Wertezentrum der Bundesrepublik noch viele Jahrzehnte in die Zukunft zu tragen. Falls diese Generation also von einer neuen Radikalität geprägt sein sollte, so ist es allenfalls die Radikalität einer radikalen Mitte. Es handelt sich dabei um eine neue junge Mitte, die mit erstaunlicher Reife begreift, dass wahre Transformation das Gegenteil von Disruption ist; dass die Forderung nach Enteignungen anderer das Gegenteil einer Aneignung der Zukunft ist. Es handelt sich um eine kommende Mehrheit, die sehr wohl ein feines Gehör für den politisch alles entscheidenden Unterschied zwischen Reform und Revolution besitzt. Diese Jungwählerinnen und Jungwähler zeigen sich in ihrer Entscheidung nicht halb so naiv und selbstverwirrt wie eine ganze linke Schar schon ein oder auch zwei Generationen älterer Power-Twitterer, YouTuber und öffentlich-rechtlich bestellter Hofnarren, die sich diesen Erstwählenden Tag um Tag agitatorisch andienten.

Pragmatismus first

Ins Auge fällt auch der bruchlos gleitende generationelle Übergang, den die Leitgestalten einer künftigen „Ampel-Koalition“ verkörpern: Olaf Scholz ist 1958 geboren, Robert Habeck 1969 und Christian Lindner 1979. Hier treffen also drei lebensweltlich grundverschiedene bundesrepublikanische Jugendprägungen aufeinander: vom Ausbruch aus der bleiernen Zeit bis zum Aufbruch in ein digitales Zeitalter nach dem Fall der Mauer. Heute stehen diese drei Leitgestalten, jeweils in der ihr parteipolitischen gemäßen Grundierung, für die Idee einer zukunftsfähigen sozialliberalen Republik. Sie stehen, wenn man so will, für „Pragmatismus first und Ideologie second“.

Enorme Chancen

Der Pragmatismus stellt – philosophisch wie politisch – das stets radikale Zentrum wahrhaft funktionsfähiger Demokratien dar. Dies konnte als Einsicht die vergangenen 16 Jahre wohl nur deshalb in Vergessenheit oder gar Verruf geraten, weil ihn die ebenfalls tief sozialliberale Bundeskanzlerin Angela Merkel stets nur im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners für allzu späte Anpassungen an das Notwendige verkörperte. Damit wären auch die enormen Chancen einer neuen, licht limettenfarbenen Regierungskoalition bestimmt: Statt auf niederschwelligen Konsens könnte sie auf bezugsoffenen Kontrast setzen, und statt auf reaktive Anpassung ganz auf aktive Gestaltung. Das bedeutete mitnichten einen Bruch mit der politischen Grundstimmung des Landes. Es wäre vielmehr ein dynamisierendes Zusichkommen.

Ein besseres Voranfließen als bisher ist möglich! In Deutschland haben, auch daran erinnert mich das Gespräch mit Bodo Hombach vor einem Jahr an den Ufern der verheißungsvoll schimmernden Ruhr, schon ganze andere, trägere Flüsse den Weg in eine belebte, helle Zukunft gefunden.

Es war mitten im Ruhrgebiet, vor knapp einem Jahr. Ich saß sinnierend auf der Terrasse hinter dem Wohnhaus von Bodo Hombach, ehemals Bundesminister für besondere Aufgaben in der ersten Regierung von Gerhard Schröder. Die Herbstsonne gab ihr Bestes. Auf der wundersam renaturierten Ruhr tanzten blinkend die Flussgeister – mal tiefgrün, mal hellgelb, je nach dem Winkel der Betrachtung. Wir sprachen über Schalke und China, CO2 und Covid-19, Kontingenz und Solidarität, vor allem aber über die Bundestagswahl.

„Im Prinzip“, so erklärte mir mein sozialdemokratischer Gastgeber, „ist die politische Grunderwartung des Wahlvolkes in diesem Land seit den Siebzigerjahren absolut stabil: Deutschland ist ein sozialliberales Land.“ Die eigentlich entscheidende Wahlkampffrage bestehe stets darin, wem es gelinge, diesen gesellschaftsprägenden Grundkonsens am effektivsten aufzugreifen und ihm zu entsprechen.

Immer wieder musste ich in den vergangenen Wochen an Hombachs Kontinuitätsthese zurückdenken, an diese so erfahrungsgesättigte wie nüchterne Perspektive auf einen Wahlausgang, den große Teile der Berliner Republik inzwischen zu einem veritablen Wegscheideereignis dramatisieren, einem radikalen Bruch, ja zum unwiderruflichen Schritt in eine gewandelte politische Landschaft. Gewiss, das absehbar regierende Farbenspiel ist nun ein wesentlich lebendigeres als noch vor dem 26. September. Doch die grundierende Politikerwartung einer stabil überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung erweist sich seit mehr als einem halben Jahrhundert als kaum verändert.

Diese zeigt sich auch im Jahr 2021 als eine durch und durch sozialliberale Grunderwartung – was im zeitgeistbestimmenden Resonanzfeld von kollektiver Coronatraumatisierung, apokalyptisch geframter Klimadringlichkeit sowie neu anschwellender Immigrationsängste durchaus als politisches Wunder begriffen werden darf. Das gilt in besonderem Maße auch mit Blick auf die drei großen europäischen Bezugsländer der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien und Italien, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten massive Erschütterungen und Transformationen nicht nur ihrer jeweiligen Parteienlandschaft, sondern auch der populistisch geschärften Wahlerwartungen der Bevölkerung zu bewältigen hatten.

Radikale Mitte

Die These einer dauerhaften und bis heute gewahrten, sozialliberalen Tiefeneinbettung liefert auch die plausibelste Erklärung für die faktische Prozenthalbierung der Grünen innerhalb nur weniger Wahlkampfmonate. Was die Wählerschaft demnach eigentlich verschreckt hat, ist weniger deren offenbar überforderte Kandidatin als vielmehr die Botschaft „Bereit, weil ihr es seid“. Für die zentrierte Mehrheit der Bevölkerung klang dies dann wohl doch zu sehr nach einer grundlegenden Veränderung der politischen Kultur in einer Zeit, in der es nach allgemeiner Wahrnehmung tatsächlich so viel zu tun gibt wie nie.

Auch die Tatsache, dass sich die Erstwähler und Erstwählerinnen des Jahres 2021 nahezu perfekt austariert vorrangig für FDP und die Grünen entschieden (beide bei gut 23 Prozent), passt zur Kontinuitätsthese. Offenbar ist selbst die Wahljugend der Gegenwart willens, das eigentliche regierende Wertezentrum der Bundesrepublik noch viele Jahrzehnte in die Zukunft zu tragen. Falls diese Generation also von einer neuen Radikalität geprägt sein sollte, so ist es allenfalls die Radikalität einer radikalen Mitte. Es handelt sich dabei um eine neue junge Mitte, die mit erstaunlicher Reife begreift, dass wahre Transformation das Gegenteil von Disruption ist; dass die Forderung nach Enteignungen anderer das Gegenteil einer Aneignung der Zukunft ist. Es handelt sich um eine kommende Mehrheit, die sehr wohl ein feines Gehör für den politisch alles entscheidenden Unterschied zwischen Reform und Revolution besitzt. Diese Jungwählerinnen und Jungwähler zeigen sich in ihrer Entscheidung nicht halb so naiv und selbstverwirrt wie eine ganze linke Schar schon ein oder auch zwei Generationen älterer Power-Twitterer, YouTuber und öffentlich-rechtlich bestellter Hofnarren, die sich diesen Erstwählenden Tag um Tag agitatorisch andienten.

Auch die Tatsache, dass sich die Erstwähler und Erstwählerinnen des Jahres 2021 nahezu perfekt austariert vorrangig für FDP und die Grünen entschieden (beide bei gut 23 Prozent), passt zur Kontinuitätsthese. Offenbar ist selbst die Wahljugend der Gegenwart willens, das eigentliche regierende Wertezentrum der Bundesrepublik noch viele Jahrzehnte in die Zukunft zu tragen. Falls diese Generation also von einer neuen Radikalität geprägt sein sollte, so ist es allenfalls die Radikalität einer radikalen Mitte. Es handelt sich dabei um eine neue junge Mitte, die mit erstaunlicher Reife begreift, dass wahre Transformation das Gegenteil von Disruption ist; dass die Forderung nach Enteignungen anderer das Gegenteil einer Aneignung der Zukunft ist. Es handelt sich um eine kommende Mehrheit, die sehr wohl ein feines Gehör für den politisch alles entscheidenden Unterschied zwischen Reform und Revolution besitzt. Diese Jungwählerinnen und Jungwähler zeigen sich in ihrer Entscheidung nicht halb so naiv und selbstverwirrt wie eine ganze linke Schar schon ein oder auch zwei Generationen älterer Power-Twitterer, YouTuber und öffentlich-rechtlich bestellter Hofnarren, die sich diesen Erstwählenden Tag um Tag agitatorisch andienten.

Pragmatismus first

Ins Auge fällt auch der bruchlos gleitende generationelle Übergang, den die Leitgestalten einer künftigen „Ampel-Koalition“ verkörpern: Olaf Scholz ist 1958 geboren, Robert Habeck 1969 und Christian Lindner 1979. Hier treffen also drei lebensweltlich grundverschiedene bundesrepublikanische Jugendprägungen aufeinander: vom Ausbruch aus der bleiernen Zeit bis zum Aufbruch in ein digitales Zeitalter nach dem Fall der Mauer. Heute stehen diese drei Leitgestalten, jeweils in der ihr parteipolitischen gemäßen Grundierung, für die Idee einer zukunftsfähigen sozialliberalen Republik. Sie stehen, wenn man so will, für „Pragmatismus first und Ideologie second“.

Enorme Chancen

Der Pragmatismus stellt – philosophisch wie politisch – das stets radikale Zentrum wahrhaft funktionsfähiger Demokratien dar. Dies konnte als Einsicht die vergangenen 16 Jahre wohl nur deshalb in Vergessenheit oder gar Verruf geraten, weil ihn die ebenfalls tief sozialliberale Bundeskanzlerin Angela Merkel stets nur im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners für allzu späte Anpassungen an das Notwendige verkörperte. Damit wären auch die enormen Chancen einer neuen, licht limettenfarbenen Regierungskoalition bestimmt: Statt auf niederschwelligen Konsens könnte sie auf bezugsoffenen Kontrast setzen, und statt auf reaktive Anpassung ganz auf aktive Gestaltung. Das bedeutete mitnichten einen Bruch mit der politischen Grundstimmung des Landes. Es wäre vielmehr ein dynamisierendes Zusichkommen.

Ein besseres Voranfließen als bisher ist möglich! In Deutschland haben, auch daran erinnert mich das Gespräch mit Bodo Hombach vor einem Jahr an den Ufern der verheißungsvoll schimmernden Ruhr, schon ganze andere, trägere Flüsse den Weg in eine belebte, helle Zukunft gefunden.

Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Sein Buch „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis.

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