Buchcover Alexei Nawalny

Rezension

Mutig, deftig, großartig

Mit seinen vier Reden vor Gericht steht Alexei Nawalny in der Reihe der Dissidenten von Solschenizyn bis Sacharow. Sein kleines Buch ist ein großer Ruf nach Freiheit.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ

Es ist eine beeindruckende Lektüre: vier Reden vor Gericht, die Alexei Nawalny im Januar und Februar dieses Jahres nach seiner Rückkehr nach Russland gehalten hat. Es sind gerade einmal 50 Seiten Text, aber die haben es in sich.

Nawalny hat überlebt, und er schlägt in aller Härte verbal zurück. Keine Spur von Einschüchterung, kein Hauch von persönlicher Resignation, kein Versuch der Mäßigung in der Wortwahl. Die Menschen in Russland und der Welt sollen sehen und hören, um was es hier geht: um einen brutalen Machthaber Wladimir Putin, der das Recht missachtet; um eine korrupte Clique von Putin-Vertrauten, die sich hemmungslos bereichern; um willfährige Putin-hörige Richter und Staatsanwälte, die ihre juristische Profession schändlich verraten. Dem steht ein betrogenes Volk gegenüber, das ausgebeutet und eingeschüchtert wird. Ihnen ruft Nawalny zu: „Habt keine Angst – geht auf die Straße!“ Und vor allem: „Schweigt nicht!“

In keiner der vier Reden spart Nawalny mit Beschimpfungen, die er zumeist in Bilder der Lächerlichkeit einbindet, um den Machthabern jeden begrifflichen Respekt zu versagen. In der Hauptverhandlung zum Vorwurf des Verstoßes gegen Bewährungsauflagen am 2. Februar 2021 ruft Nawalny aus: „Wir hatten Alexander den Befreier, wir hatten Jaroslaw den Weisen, und jetzt haben wir Wladimir den Unterhosenvergifter. So geht er in die Geschichte ein.“

Die Reaktion im Saal ist Gelächter. Es gibt Versuche, Nawalny zu unterbrechen, doch das gelingt nicht, er fährt fort: „Hier stehe ich, bewacht von der Polizei; die Nationalgarde ist hier, und halb Moskau ist abgesperrt, weil der kleine Mann im Bunker durchdreht ...“

Wir hatten Alexander den Befreier, Jaroslaw den Weisen und jetzt haben wir Wladimir den Unterhosenvergifter.
ALEXEI NAWALNY

Es sind schrille und laute Rufe nach der Freiheit, dem Rechtsstaat und nach sozialer Gerechtigkeit, die Nawalny ausstößt. Der Text erinnert in erschreckender Weise an die scharfen Analysen, wie sie von den großen Dissidenten in der Sowjetunion vor Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, von Solschenizyn bis Sacharow, allerdings noch erheblich deftiger und derber im Ton, als jene großen Stilisten je formulierten. Nawalnys Adressaten sind eben nicht das literarische Publikum oder gar akademische Kollegen, sondern die sozialen Medien des 21. Jahrhunderts. Er hat Millionen Leserinnen und Leser.

Der Stil mag nicht jedem Ästheten gefallen, aber der politische Kampf um die Freiheit ist eben auch nichts für Feinsinnige, jedenfalls nicht im heutigen Russland von Wladimir Putin. Auch in weltanschaulich-philosophische Höhen schwingt sich Nawalny nicht auf. Es fehlt völlig an präzisen (liberalen?) Positionen. Nawalnys eigenes Weltbild bleibt blass.

Dies mindert aber nicht im Geringsten den ungeheuren Wert dieses Büchleins. Es liefert einen großartigen Ruf nach Freiheit. Und den lohnt es zu lesen, am besten in einem Zug, zusammen mit dem konzisen Vorwort von Gerhart Baum und den höchst informativen Anmerkungen von Alexandra Berlina. Wer des Russischen mächtig ist, kann die Reden im Original lesen – sie sind auf 30 Seiten in kyrillischer Schrift mit abgedruckt. Aber auch die deutsche Übersetzung spricht für sich. Wie die Freiheit!

Alexei Nawalny: „Schweigt nicht! Reden vor Gericht.“ Droemer Verlag München (2021), 96 Seiten, 8 Euro

Buchcover Alexei Nawalny

Rezension

Mutig, deftig, großartig

Mit seinen vier Reden vor Gericht steht Alexei Nawalny in der Reihe der Dissidenten von Solschenizyn bis Sacharow. Sein kleines Buch ist ein großer Ruf nach Freiheit.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ

Es ist eine beeindruckende Lektüre: vier Reden vor Gericht, die Alexei Nawalny im Januar und Februar dieses Jahres nach seiner Rückkehr nach Russland gehalten hat. Es sind gerade einmal 50 Seiten Text, aber die haben es in sich.

Nawalny hat überlebt, und er schlägt in aller Härte verbal zurück. Keine Spur von Einschüchterung, kein Hauch von persönlicher Resignation, kein Versuch der Mäßigung in der Wortwahl. Die Menschen in Russland und der Welt sollen sehen und hören, um was es hier geht: um einen brutalen Machthaber Wladimir Putin, der das Recht missachtet; um eine korrupte Clique von Putin-Vertrauten, die sich hemmungslos bereichern; um willfährige Putin-hörige Richter und Staatsanwälte, die ihre juristische Profession schändlich verraten. Dem steht ein betrogenes Volk gegenüber, das ausgebeutet und eingeschüchtert wird. Ihnen ruft Nawalny zu: „Habt keine Angst – geht auf die Straße!“ Und vor allem: „Schweigt nicht!“

Die Reaktion im Saal ist Gelächter. Es gibt Versuche, Nawalny zu unterbrechen, doch das gelingt nicht, er fährt fort: „Hier stehe ich, bewacht von der Polizei; die Nationalgarde ist hier, und halb Moskau ist abgesperrt, weil der kleine Mann im Bunker durchdreht ...“

Wir hatten Alexander den Befreier, Jaroslaw den Weisen und jetzt haben wir Wladimir den Unterhosen-
vergifter.
ALEXEI NAWALNY

Es sind schrille und laute Rufe nach der Freiheit, dem Rechtsstaat und nach sozialer Gerechtigkeit, die Nawalny ausstößt. Der Text erinnert in erschreckender Weise an die scharfen Analysen, wie sie von den großen Dissidenten in der Sowjetunion vor Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, von Solschenizyn bis Sacharow, allerdings noch erheblich deftiger und derber im Ton, als jene großen Stilisten je formulierten. Nawalnys Adressaten sind eben nicht das literarische Publikum oder gar akademische Kollegen, sondern die sozialen Medien des 21. Jahrhunderts. Er hat Millionen Leserinnen und Leser.

Der Stil mag nicht jedem Ästheten gefallen, aber der politische Kampf um die Freiheit ist eben auch nichts für Feinsinnige, jedenfalls nicht im heutigen Russland von Wladimir Putin. Auch in weltanschaulich-philosophische Höhen schwingt sich Nawalny nicht auf. Es fehlt völlig an präzisen (liberalen?) Positionen. Nawalnys eigenes Weltbild bleibt blass.

Dies mindert aber nicht im Geringsten den ungeheuren Wert dieses Büchleins. Es liefert einen großartigen Ruf nach Freiheit. Und den lohnt es zu lesen, am besten in einem Zug, zusammen mit dem konzisen Vorwort von Gerhart Baum und den höchst informativen Anmerkungen von Alexandra Berlina. Wer des Russischen mächtig ist, kann die Reden im Original lesen – sie sind auf 30 Seiten in kyrillischer Schrift mit abgedruckt. Aber auch die deutsche Übersetzung spricht für sich. Wie die Freiheit!

Alexei Nawalny: „Schweigt nicht! Reden vor Gericht.“ Droemer Verlag München (2021), 96 Seiten, 8 Euro

Rezension

Die letzten Tage von Hongkong

Die ehemalige britische Kronkolonie war einmal eine Insel der Freiheit. Marko Martin war oft dort – auch während der großen Demonstrationen der Demokratiebewegung. Er zeichnet das beklemmende Bild einer stark veränderten Stadt.

TEXT: EVA CHEUNG

Marko Martin hat Hongkong oft besucht. Er hat die Stadt als „Insel der Freiheit“ kennengelernt. Auch den Jahreswechsel 2019/2020 verbringt er in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Zufällig gerät er in die große Neujahrsdemonstration der Demokratiebewegung hinein, ein historisches Ereignis, und lernt den jungen, inzwischen berühmten Aktivisten Joshua Wong kennen. „Was wir hier machen, tun wir letztlich für die ganze Welt“, sagt der Student.

Was wir hier machen, tun wir letzlich für die ganze Welt.
JOSHUA WONG

Detailreich und atmosphärisch dicht beschreibt Martin in seinem Buch „Die letzten Tage von Hongkong“ die Stimmung auf der Protestaktion und die „ruhige Entschlossenheit“ des Menschenmeeres, die ihn fasziniert. Das Buch trägt denselben Titel wie John Burdetts Kriminalroman aus dem Jahr 1998, der die Endzeitstimmung vor der Übergabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik China beschreibt. Das ist gewiss kein Zufall: Mehr als zwanzig Jahre später steht Hongkong abermals vor einem historischen Wendepunkt.

Marko Martin verknüpft mehrere Genres. Das Buch ist eine Mischung aus persönlichem Tagebuch, Reiseführer und politischer Reportage, das Ganze angereichert mit cineastischen und literarischen Reminiszenzen.

So zeichnet der Schriftsteller das Bild einer Stadt, die sich seit seinen vorhergehenden Besuchen stark verändert hat, als er noch Bürgerrechtsorganisationen und Politikerinnen wie Emily Lau und Christine Loh zu Gesprächen traf. Eindringlich erzählt der Autor die Geschichten der Bürger Hongkongs, deren Leben von Ängsten, Resignation, aber auch immer noch von Mut und Hoffnung geprägt sind. Er berichtet von Konflikten zwischen der älteren Generation und jungen Protestlern, von denen sie sich distanziert, von reichen und armen Demonstranten, von gewaltbereiten „Feuerzauberern“ und friedlichen Bürgerrechtsaktivisten.

Die Ängste und die Vorsicht der Menschen sind dabei an vielen Orten spürbar. Sie erzählen dem Besucher – mal mehr, mal weniger offen – ihre Meinung über die Volksrepublik, sei es beim Museumsbesuch, im ausschweifenden Nachtleben oder auf den Straßenkundgebungen. Mit hochgehaltenen leuchtenden Handys skandieren dort die Protestierenden „Five demands, not one less“. Die gespreizten Finger stehen für die großen fünf Forderungen der Demokratiebewegung.

Es ist eine Momentaufnahme, die Marko Martin in seinem lesenswerten Buch bietet. Viel ist seither geschehen: Chinas sogenanntes Sicherheitsgesetz für Hongkong ist am 30. Juni 2020 in Kraft getreten. Die prodemokratische „Civil Human Rights Front“ löste sich im August 2021 auf. Der mutige Student und Aktivist Joshua Wong, der allgemeine und freie Wahlen, Gewaltenteilung und Pressefreiheit als nicht exklusiv westliches, sondern universelles Modell verteidigte, sitzt in Haft. Hongkong ist heute keine Insel der Freiheit mehr.

Wongs Aussage, die im Vorspann des Buches abgedruckt ist, hat als Mahnung an die Welt auch weiterhin Bestand: „Nirgendwo auf der Welt wird der Kampf zwischen freiem Willen und Autoritarismus deutlicher als hier. Wie der Kanarienvogel in der Kohlemine oder das Frühwarnsystem an einer tsunamigefährdeten Küste senden wir ein Notrufsignal an den Rest der Welt.“

Marko Martin, „Die letzten Tage von Hongkong“,
Klett-Cotta Verlag (2021), 320 Seiten, 22 Euro

Buchcover Marko Martin
Buchcover Marko Martin

Rezension

Die letzten Tage von Hongkong

Die ehemalige britische Kronkolonie war einmal eine Insel der Freiheit. Marko Martin war oft dort – auch während der großen Demonstrationen der Demokratie-
bewegung. Er zeichnet das beklemmende Bild einer stark veränderten Stadt.

TEXT: EVA CHEUNG

Marko Martin hat Hongkong oft besucht. Er hat die Stadt als „Insel der Freiheit“ kennengelernt. Auch den Jahreswechsel 2019/2020 verbringt er in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Zufällig gerät er in die große Neujahrsdemonstration der Demokratiebewegung hinein, ein historisches Ereignis, und lernt den jungen, inzwischen berühmten Aktivisten Joshua Wong kennen. „Was wir hier machen, tun wir letztlich für die ganze Welt“, sagt der Student.

Was wir hier machen, tun wir letzlich für die ganze Welt.
JOSHUA WONG

Detailreich und atmosphärisch dicht beschreibt Martin in seinem Buch „Die letzten Tage von Hongkong“ die Stimmung auf der Protestaktion und die „ruhige Entschlossenheit“ des Menschenmeeres, die ihn fasziniert. Das Buch trägt denselben Titel wie John Burdetts Kriminalroman aus dem Jahr 1998, der die Endzeitstimmung vor der Übergabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik China beschreibt. Das ist gewiss kein Zufall: Mehr als zwanzig Jahre später steht Hongkong abermals vor einem historischen Wendepunkt.

Marko Martin verknüpft mehrere Genres. Das Buch ist eine Mischung aus persönlichem Tagebuch, Reiseführer und politischer Reportage, das Ganze angereichert mit cineastischen und literarischen Reminiszenzen.

So zeichnet der Schriftsteller das Bild einer Stadt, die sich seit seinen vorhergehenden Besuchen stark verändert hat, als er noch Bürgerrechtsorganisationen und Politikerinnen wie Emily Lau und Christine Loh zu Gesprächen traf. Eindringlich erzählt der Autor die Geschichten der Bürger Hongkongs, deren Leben von Ängsten, Resignation, aber auch immer noch von Mut und Hoffnung geprägt sind. Er berichtet von Konflikten zwischen der älteren Generation und jungen Protestlern, von denen sie sich distanziert, von reichen und armen Demonstranten, von gewaltbereiten „Feuerzauberern“ und friedlichen Bürgerrechtsaktivisten.

Die Ängste und die Vorsicht der Menschen sind dabei an vielen Orten spürbar. Sie erzählen dem Besucher – mal mehr, mal weniger offen – ihre Meinung über die Volksrepublik, sei es beim Museumsbesuch, im ausschweifenden Nachtleben oder auf den Straßenkundgebungen. Mit hochgehaltenen leuchtenden Handys skandieren dort die Protestierenden „Five demands, not one less“. Die gespreizten Finger stehen für die großen fünf Forderungen der Demokratiebewegung.

Es ist eine Momentaufnahme, die Marko Martin in seinem lesenswerten Buch bietet. Viel ist seither geschehen: Chinas sogenanntes Sicherheitsgesetz für Hongkong ist am 30. Juni 2020 in Kraft getreten. Die prodemokratische „Civil Human Rights Front“ löste sich im August 2021 auf. Der mutige Student und Aktivist Joshua Wong, der allgemeine und freie Wahlen, Gewaltenteilung und Pressefreiheit als nicht exklusiv westliches, sondern universelles Modell verteidigte, sitzt in Haft. Hongkong ist heute keine Insel der Freiheit mehr.

Wongs Aussage, die im Vorspann des Buches abgedruckt ist, hat als Mahnung an die Welt auch weiterhin Bestand: „Nirgendwo auf der Welt wird der Kampf zwischen freiem Willen und Autoritarismus deutlicher als hier. Wie der Kanarienvogel in der Kohlemine oder das Frühwarnsystem an einer tsunamigefährdeten Küste senden wir ein Notrufsignal an den Rest der Welt.“

Marko Martin, „Die letzten Tage von Hongkong“,
Klett-Cotta Verlag (2021), 320 Seiten, 22 Euro

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