RELIGION

Im deutschen

Bible-Belt

Viele Evangelikale in Baden-Württemberg und Sachsen pflegen seit Generationen ein kritisches Verhältnis zu staatlichen Autoritäten. Manche neigen zu Verschwörungstheorien und haben in mehreren Punkten eine ideologische Nähe zur AfD.

TEXT: CHARLOTTE THEILE

RELIGION

Im deutschen Bible-Belt

Viele Evangelikale in Baden-Württemberg und Sachsen pflegen seit Generationen ein kritisches Verhältnis zu staatlichen Autoritäten. Manche neigen zu Verschwörungstheorien und haben in mehreren Punkten eine ideologische Nähe zur AfD.

TEXT: CHARLOTTE THEILE

Hans Jakob Rausch ist der Schock anzusehen. Für den NDR hat sich der Reporter sieben Tage in die radikal christliche Gemeinde „The Way of Holiness“ im Süden Deutschlands begeben. Rausch ist selbst Christ, Sohn einer evangelischen Pastorin. Nun sitzt er bei gedämpftem Licht in einem kleinen Versammlungsraum, hinter sich Vorhänge und eine Zimmerpflanze, vor sich ein Taufbecken und eine Deutschlandfahne. Die Gläubigen beten in schönstem Schwäbisch für die „Erweckung Deutschlands“. 

Die Aufnahmen sind vier Jahre alt. Rausch war klar, dass die Gemeinde in Bietigheim-Bissingen „ganz am Ende des freikirchlichen Spektrums“ steht. Trotzdem erschreckt ihn der politische Fokus. Im Frühjahr 2020 stolpert er wieder über die Gemeinde. Die Seiferts, die ihre Kirche auch mit dem Versprechen füllen, lebensbedrohliche Krankheiten durch Handauflegen zu heilen, verkünden nun, das Corona-Virus sei „patentiert“, von Menschen gemacht. „Im Namen Jesus von Nazareth“ befehlen sie ihm, „in den Abgrund zu gehen“.

Die Gemeinde in Bietigheim-Bissingen ist nur eine von vielen Freikirchen, die in der Pandemie auf das Radar gekommen sind. Auch bei den Querdenker-Demonstrationen liefen viele evangelikale Christen mit. Freikirchen wurden zu Corona-Hotspots. Schon vor der Pandemie machten Gegenden, in denen evangelikale Freikirchen besonders viele Mitglieder haben, mit politischen Forderungen von sich reden, beispielsweise zum Aufklärungsunterricht in Schulen. Die fundamentalistischen Christen drohen mittlerweile erhebliche gesellschaftliche Sprengkraft zu entwickeln – ähnlich wie ihre Freunde im amerikanischen „Bible Belt“, jener Region im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten, wo evangelikale Kirchen enorme wirtschaftliche und politische Macht auf sich vereinen und 2016 entscheidend für den Wahlsieg von Donald Trump verantwortlich waren.

Berührungspunkte mit der AfD  

Evangelikale Gemeinden suchen die Bibel wörtlich auszulegen und stellen die persönliche Frömmigkeit ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt. Oft lässt sich der Grad der individuellen Überzeugung an bestimmten Glaubenssätzen ablesen – zum Beispiel der Ablehnung von Sex außerhalb der Ehe oder von homosexuellen Partnerschaften. In einigen wenigen sächsischen und württembergischen Landkreisen gehört knapp die Hälfte der Einwohner einer evangelikalen Gemeinde an. Hier prägen die Frommen Gesellschaft und Kultur.

Viele Freikirchen sind Mitglied der Evangelischen Allianz. Diese vertritt nach eigenen Angaben gut eine Million Gläubige. Wer die Homepage der Allianz anschaut, liest von Gebet, Frieden und Versöhnung. Trotzdem warnt Julia Schmidt davor, die Evangelikalen „harmlos“ oder „normal“ zu nennen. Sie ist 36 Jahre alt, lebt in Chemnitz. Nur wenige Kilometer entfernt von der Stadt beginnt das Erzgebirge, wo die Evangelikalen besonders stark sind. Dort, in Annaberg-Buchholz, findet seit 2010 jedes Jahr ein „Schweigemarsch für das Leben“ statt, eine Demonstration religiös motivierter Abtreibungsgegner. Schmidt – sie heißt in Wirklichkeit anders – stand viele Jahre auf der Gegenseite, demonstrierte für weibliche Selbstbestimmung. Die selbst ernannten Lebensschützer hätten zutiefst frauenfeindliche Überzeugungen – „oft auch Teile einer extrem rechten Grundhaltung“.

Auch der Göttinger Politikwissenschaftler Michael Lühmann versteht die Freikirchen im sächsischen Erzgebirge als eingeschworene Gemeinschaft. Das sei auch geografisch bedingt: „Diese Tal-Lage macht etwas mit den Menschen. Dort gelten eigene Regeln, die sich über Jahrzehnte gefestigt haben. Man hat 40 Jahre Ausgrenzung in der DDR überstanden, war immer sehr auf sich bezogen.“ Er sieht etliche Berührungspunkte der Evangelikalen mit der AfD: ein traditionelles Rollenverständnis von Männern und Frauen, die Ablehnung von Homosexuellen und grundsätzlich eine „Gegnerschaft zum Zeitgeist“.

Zudem gibt es, wie man an der evangelikalen AfD-Politikerin Beatrix von Storch sehen kann, klare Überschneidungen zwischen freikirchlich christlichem und rechtem Milieu. Innerhalb der Freikirchen gibt es unterschiedliche Strömungen. Der evangelische Theologe Michael Diener, jahrelang Vorsitzender der Evangelischen Allianz, grenzt sich deutlich von rechten und ultrakonservativen Positionen ab. Er kämpft gegen einfache „Schwarz-Weiß-Schilderungen“ auf beiden Seiten und will „das Gute in der evangelikalen Bewegung“ für Kirche und Gesellschaft nutzbar machen. Mit dieser moderaten Position ist Diener in evangelikalen Kreisen umstritten. Im Jahr 2015 hatte er in der Zeitung „Die Welt“ angeregt, die kirchliche Haltung zu Homosexuellen zu überdenken, was ihm so viel Protest einbrachte, dass er sich schließlich für die „reißerische“ Form entschuldigte. Inhaltlich aber bleibt Diener bei seiner liberalen Position – und er ist überzeugt, dass diese von einem beträchtlichen Teil der Gläubigen geteilt wird. 

In einer Umfrage haben Detlef Pollack und Carolin Hillenbrand von der Universität Münster Aussagen wie „Hinter der Corona-Pandemie stecken verborgene Mächte“ mit religiösen Zugehörigkeiten und Überzeugungen korreliert. Es zeigte sich: Evangelikale Christen, die daran glauben, dass Jesus eines Tages als Richter auf die Erde kommen wird, und die dazu neigen, im Fall eines Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft der Religion den Vorzug zu geben, sind anfälliger für Verschwörungsmythen als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Lage spitzt sich zu

Für den Religionssoziologen Pollack ist das nicht überraschend: „Viele Evangelikale haben seit Generationen ein kritisches Verhältnis zu staatlichen Autoritäten. Sie legen Wert auf die Intensivierung ihres ganz persönlichen Glaubens und sehen diesen oft als den einzig wahren an. Damit ist nicht selten eine Abgrenzung von anderen Weltdeutungen, mitunter auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden. Dass sie von anderen abgelehnt werden, dass sie mit ihren Überzeugungen auf Kritik stoßen, gehört für sie seit Langem zum Alltag.“ Dabei ist ihm wichtig zu betonen, dass die meisten Evangelikalen „nicht aggressiv auftreten und sich gesellschaftlich zunehmend öffnen“.

In der Tat kümmern sich die Gemeinden um Menschen in Not, die Mitglieder leben Gemeinschaft und setzen sich ehrenamtlich für viele gute Zwecke ein. Es ist diese Freundlichkeit, welche die Evangelikalen so schwer fassbar macht – und den Eindruck bestärkt, es handle sich um harmlose, vielleicht etwas entrückte Menschen. Pollack meint, dass man Evangelikale wohl am besten erreichen könne, in dem man „verständnisvoll mit ihnen umgehe“ und sie nicht in eine Ecke dränge. Doch wie soll das gehen? Schließlich fühlen sich manche Gläubige bereits von Aufklärungsunterricht in Schulen oder vom Festhalten an grundlegenden Menschenrechten provoziert. Und auch die Diskussion bleibt schwierig. Der Politikwissenschaftler Michael Lühmann etwa beschreibt, wie er als Jugendlicher in Kontakt mit zwei Gleichaltrigen aus dem Erzgebirge kam – und recht schnell gemerkt habe, „dass es keine Basis für ein Gespräch gab“.

Lühmann beobachtet sogar, dass sich die Lage in den evangelikalen Kirchen zugespitzt habe. „Die Ideologie ist oft so weit gedreht, dass sich immer mehr Gläubige distanzieren. Es könnte gut sein, dass einige Gemeinden daran zerbrechen – oder sich vollends von der Realität abwenden.“ In der Gemeinde in Bietigheim-Bissingen, die Hans Jakob Rausch vor vier Jahren mit der Kamera besucht hat, scheint man sich noch mehr eingekapselt zu haben. „Sie wollen nicht mehr mit mir reden“, berichtet Rausch nach dem Telefonat mit Pfarrerin Seifert. Es klingt, als habe er die Hoffnung aufgegeben.

Charlotte Theile ist Journalistin und Gründerin des Storytelling-Kollektivs Elephant Stories. Sie schreibt über Verbrechen, Politik, Feminismus und Gesellschaftsthemen. Darüber hinaus gibt sie Seminare in Medienkompetenz und Podcasting. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie das Sachbuch „Ist die AfD zu stoppen? Die Schweiz als Vorbild der Neuen Rechten“.

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