KLIMASCHUTZ & WOHLSTAND

Wiedergeburt des Wachstums

Die Ampelkoalition setzt auf Klimaschutz und Wohlstand zugleich. Das ist gut so – für Deutschland und Europa. 

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ

KLIMASCHUTZ & WOHLSTAND

Wiedergeburt des Wachstums

Die Ampelkoalition setzt auf Klimaschutz und Wohlstand zugleich. Das ist gut so – für Deutschland und Europa.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ

Vor elf Jahren setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission ein. Ihr Name: „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Der Verfasser dieser Zeilen war als sogenannter Sachverständiger Mitglied der Kommission, nominiert von der FDP-Fraktion. Die Arbeit in der Enquete war hochinteressant, aber gelegentlich auch frustrierend – schließlich gab es einen tiefen Riss zwischen jenen Politikern und Sachverständigen, die sich wegen des drohenden Klimakollapses strikt gegen weiteres Wachstum und für „De-Growth“ aussprachen, und jenen, die sehr wohl für ein – aber richtig verstandenes – Wirtschaftswachstum plädierten. Der Verfasser gehörte zur zweiten Gruppe.

Die Auseinandersetzung wurde in der Enquete weitgehend sachlich, aber draußen in der Öffentlichkeit auch mit rustikaler Polemik geführt. Diese zog sich später noch lange wie ein roter Faden durch die politische Landschaft. Vor allem zwischen Grünen und FDP lief bei diesem Thema eine Art Demarkationslinie, mit den Grünen kontra und der FDP pro Wachstum. Dies vergiftete die politische Atmosphäre. Mit der Vereinbarung der Ampelkoalition könnte dieser Konflikt maßgeblich entschärft sein, hoffentlich für immer.

Kein Klimaschutz ohne Innovationen

Tatsächlich findet sich auf den 177 Seiten und in den 6.018 Zeilen des Vertrags an keiner Stelle ein Plädoyer gegen den Klimaschutz oder gegen das Wirtschaftswachstum. Im Gegenteil, beiden Zielen wird zugebilligt, dass sie komplementär sind, um die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Vor allem wird ohne neues technisches Wissen der Klimaschutz überhaupt nicht möglich sein; und dieses Wissen entsteht eben nur durch innovationsgetriebenes Wachstum – und nicht durch Selbstbeschränkung und Askese, die der Gesellschaft in der Breite ohnehin kaum zuzumuten sind.

Das ist ein großartiger gedanklicher Schritt nach vorn, der die politische Mitte neu ordnet und stärkt. „Mehr Fortschritt wagen“, der Obertitel der Koalitionsvereinbarung, weist genau in diese Richtung; ihr Untertitel „Freiheit – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit“ tut es ebenso. Die deklarierten Grundwerte von FDP, SPD und Grünen werden gewissermaßen gebündelt und in einem Kompromiss austariert.
Die Mitte ist damit wieder handlungsfähig. Und sie hat eine optimistische Vision, fernab von negativer grüner Verzichtsideologie, aber auch weit weg vom libertären Glauben an eine Marktwirtschaft, die jenseits des Marktergebnisses keine gesellschaftlichen Ziele kennt.

Das Ende der Merkel-Ära markiert einen historischen Augenblick, in dem Deutschland dringend eine Vision braucht.
Das Ende der Merkel-Ära markiert einen historischen Augenblick, in dem Deutschland dringend eine Vision braucht.

Kompromiss zur rechten Zeit

Der Kompromiss kommt zur rechten Zeit. Denn das Ende der Merkel-Ära markiert einen historischen Augenblick, in dem Deutschland eine solche Vision dringend braucht. Die Nation hat zu lange von der Substanz gelebt, und dies übrigens gar nicht schlecht, was das Bewusstsein für den Reformstau vernebelt hat, ähnlich wie in der Spätphase der Ära Adenauer und der Ära Kohl. Wem es ganz gut geht, der droht den Absprung zu Neuem zu verpassen.

Diese Gefahr ist jetzt gebannt, zumindest vorerst. Das setzt die Ampelkoalition unter massiven Druck, und das ist gut so: Sie kann sich ein Scheitern eigentlich gar nicht leisten, zu sehr warten die Deutschen auf den Erfolg. Und übrigens nicht nur die Wählerinnen und Wähler der Koalitionsparteien: Auch CDU-Wähler wissen, dass der Kampf gegen den Rechtspopulismus nur gewonnen werden kann, wenn die Mitte politisch reüssiert. Jetzt ist es mit der Ampel eben die eher linke Mitte, später könnte es mit Jamaika auch wieder mal die eher rechte Mitte werden.

All dies ist auch für Europa von überragender Bedeutung. Denn mit Blick auf die Nachbarn kommen Vision und Kompromiss in Deutschland gerade noch zur rechten Zeit. Es hat sich dort ja im zurückliegenden Jahrzehnt einiges verändert, und zwar eindeutig zum Besseren. Erinnern wir uns: Vor zehn Jahren herrschte die Schuldenkrise, und es wurden harte Programme der Austerität aufgelegt. In der Eurozone quälten sich Griechenland, Italien, Portugal und Spanien durch lang anhaltende wirtschaftliche Depressionen; im Baltikum gingen Estland, Lettland und Litauen durch harte Stabilisierungskrisen.

In den vergangenen Jahren hat sich das Bild – trotz Corona – merklich aufgehellt. Es gibt kein Wachstumsgefälle mehr zwischen Deutschland und Frankreich sowie der mediterranen Welt. Ganz im Gegenteil ist es nun Deutschland, das in der wirtschaftlichen Erholung nach Corona eher Mühe hat, den Anschluss zu halten. Überall laufen bei hohen staatlichen Defiziten die Corona-Hilfsmaßnahmen noch immer auf vollen Touren, aber sie wirken anscheinend in den europäischen Nachbarländern dynamischer als in Deutschland.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Deutschland hat – zusammen mit den Niederlanden und der Schweiz – die niedrigsten Arbeitslosenquoten. Dies ist erfreulich für die Beschäftigten, sorgt aber zusammen mit Lieferstaus bei Rohstoffen und Zwischenprodukten in der Industrie für hochschnellende Erzeugerpreise. Die Inflation erreicht aktuell hierzulande internationale Spitzenwerte, und die volkswirtschaftliche Wertschöpfung stößt überall auf Engpässe. In Anbetracht der besonders schlechten demografischen Entwicklung in Deutschland wird sich daran nur wenig ändern, es sei denn, es kommt hierzulande eben wirklich zu einer offensiven Wachstumspolitik, die viel mehr qualifizierte Einwanderung zulässt, die Erwerbsbeteiligung von Frauen erhöht, die Bildung verbessert und die Digitalisierung vorantreibt. All dies steht im Programm der Ampelkoalition.

Chance auf dauerhafte Dynamik

Es ist eben längst Deutschland selbst, das den größten Nachholbedarf hat, soweit es darum geht, die gesamtwirtschaftlichen Produktionsbedingungen zu verbessern. Nur wenn die Ampelkoalition Wort hält, kann das größte Land der EU mit seinen enorm starken Außenhandelsverflechtungen in alle Richtungen seine traditionelle Rolle als „Lokomotive des Wachstums“ in Europa wieder einnehmen. Hinzu kommt die neue, selbstgewählte Aufgabe als Schrittmacher im Klimaschutz – durch Wachstum und Innovationskraft. Da werden andere nur folgen, wenn sich Deutschlands Weg tatsächlich als erfolgreich erweist.

Fazit: Europa hat eine große Chance, auf Dauer zu einer neuen Dynamik zurückzukehren – nach einem Jahrzehnt gewaltiger Verwerfungen, die das Selbstbewusstsein der Menschen auf dem alten Kontinent schwer mitgenommen haben. Schuldenkrise, Flüchtlingskrise und Coronakrise hinterlassen auch eine psychologische Erbschaft von Misstrauen und Zwietracht, die nicht leicht zu überwinden ist. Aber eigentlich sind die objektiven Voraussetzungen gar nicht so schlecht – jedenfalls mit der neuen Bundesregierung.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor der Volkswirtschaftslehre. Er bezeichnet sich gern als notorischen Optimisten, auch mit Blick auf Deutschland und Europa.

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