WAHLRECHTSREFORM

Jede Stimme zählt

Das Wahlrecht ist reformbedürftig. Der Bundestag darf nicht immer weiter wachsen, und Wählerinnen und Wähler, die für eine an der Fünfprozentklausel gescheiterte Partei gestimmt haben, dürfen nicht länger ohne jeglichen Einfluss bleiben.

TEXT: ECKHARD JESSE

WAHLRECHTSREFORM

Jede Stimme zählt

Das Wahlrecht ist reformbedürftig. Der Bundestag darf nicht immer weiter wachsen, und Wählerinnen und Wähler, die für eine an der Fünfprozentklausel gescheiterte Partei gestimmt haben, dürfen nicht länger ohne jeglichen Einfluss bleiben.

TEXT: ECKHARD JESSE

Dass die Bürger und Bürgerinnen Wahlen und Wahlergebnisse akzeptieren, setzt die Legitimität des Wahlverfahrens voraus. Es gibt zwar eine Diskussion darüber, ob und wie das Parlament zu verkleinern wäre und ob es sinnvoll wäre, die Wahlperiode zu verlängern. Doch die entscheidende Kernfrage, ob das seit 1949 bestehende Verhältniswahlsystem einer grundlegenden Reform bedarf, ist in den Hintergrund gerückt. Dabei herrscht hier der erhebliche Missstand, dass Wähler, die für eine an der Fünfprozentklausel gescheiterte Partei gestimmt haben, gänzlich ohne Einfluss bleiben. Für die Legitimität der Wahlen und die Akzeptanz ihrer Ergebnisse ist das schlecht.

Das bedeutet nicht, dass das deutsche Verhältnis- oder Proportionalwahlsystem zur Disposition steht. In diesem System sind Stimmen- und Mandatsanteile prinzipiell deckungsgleich. Die Vergabe der Mandate für die Parteien folgt den Zweitstimmen, wobei die in den Wahlkreisen errungenen Direktmandate – insgesamt die Hälfte der Mandate – von den Landeslistenmandaten der Parteien abgezogen werden. In den Wahlkreisen sind die Kandidaten und Kandidatinnen mit den meisten Stimmen gewählt. Ein Mischsystem ist es nur insofern, als jeweils die Hälfte der Abgeordneten über die Liste und direkt gewählt wird. Das Proportionalprinzip bleibt davon unberührt.

Das Verhältniswahlsystem hat in Deutschland lange jene Wirkungen gezeigt, die man üblicherweise eher der Mehrheitswahl zuschreibt: klare Regierungsmehrheiten, stabile Regierungen und funktionierende Regierungswechsel. Doch eine Reihe von Bestimmungen im Wahlrecht haben sich als untauglich erwiesen. An erster Stelle auf der Reformagenda rangiert das aufgeblähte Parlament. Durch die Einführung von Ausgleichsmandaten wies das Parlament 2013 nicht 598 Mandate auf, wie im Wahlgesetz festgelegt, sondern 631 (4 Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate), 2017 waren es 709 (46 Überhangmandate und 65 Ausgleichsmandate) und 2021 gar 736 (34 Überhangmandate und 104 Ausgleichsmandate).

Die Fünf-prozentklausel hat ihre Tücken – gerade mit Blick auf die Legitimität des Systems.

Die Fünf-prozentklausel hat ihre Tücken – gerade mit Blick auf die Legitimität des Systems.

Stein des Anstoßes

Alle Vorstöße, diesen Trend zu stoppen, sind bisher im Sand verlaufen, und die mangelnde Reformfähigkeit des Bundestages in eigener Sache ist seit Längerem ein Stein des öffentlichen Anstoßes. Die Ampel-Koalition zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP will das ändern. Im Koalitionsvertrag ist eine Überarbeitung des Wahlsystems innerhalb des ersten Regierungsjahres vorgesehen, mit dem Ziel, das Wachstum der Mandate zu unterbinden und möglichst auf die Regelgröße zu gelangen. Das läuft wohl auf ein drastisches Verkleinern der Zahl der Wahlkreise hinaus. Eine im März eingesetzte Wahlrechtskommission ist mit dieser Aufgabe betraut.

Der Koalitionsvertrag geht an verschiedenen Stellen auf weitere Reformen des Wahlrechts ein. Eine Kommission solle sich mit „einer paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern befassen und die rechtlichen Rahmenbedingungen erörtern“. Zur Prüfung stehen weiterhin die Bündelung von Wahlterminen, die Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre und eine Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin an. Es gibt eine Reihe von Absichtserklärungen, unter anderem zum aktiven Wahlalter und zur Ausübung des Wahlrechts für im Ausland lebende Deutsche. Es ist beabsichtigt, rechtliche Hindernisse abzubauen, die es Analphabeten und Betreuten erschweren, ihr Wahlrecht auszuüben. Ferner wünscht sich die Bundesregierung ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit Sperrklausel.

Weitere Reformschritte, die zu Transparenz und Wahlgerechtigkeit beitragen und die Legitimität stärken könnten, dürften freilich ausbleiben. Das gilt beispielsweise für die Abschaffung des Zweistimmensystems und der Grundmandatsklausel. Dass sie über eine Erststimme und eine Zweitstimme verfügen, verwirrt viele Wählerinnen und Wähler und gaukelt mehr Partizipation vor, als damit tatsächlich verbunden ist. Die Grundmandatsklausel leuchtet ebenfalls nicht ein und unterläuft zudem den Sinn der Fünfprozenthürde: Wieso soll eine Partei mit 4,4 Prozent der Zweitstimmen und vier Direktmandaten in den Bundestag einziehen (wie die PDS 1994), eine Partei mit 4,8 Prozent und ohne Direktmandate jedoch nicht (wie die FDP 2013)?

Die Fünfprozentklausel soll die Regierungsfähigkeit der ins Parlament gewählten Parteien erleichtern. Jedoch hat eine solche Hürde ihre Tücken, gerade mit Blick auf die Legitimität des Systems. Denn nicht jede Stimme wird verwertet – die Stimmen für Parteien, die keine 5 Prozent erreicht haben, fallen schlichtweg unter den Tisch. Bei den Landtagswahlen 2022 waren dies im Saarland aufsummiert 22,3 Prozent der abgegebenen Stimmen, in Schleswig-Holstein 10,3 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 8,2 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 betrug dieser Anteil immerhin 15,7 Prozent, bei der Bundestagswahl 2021 waren es immer noch 8,6 Prozent. Das ist eine große Menge Stimmen, die systematisch nicht gehört werden. Besonders pro-blematisch ist das, weil der Wahlakt jene Form der politischen Partizipation ist, von der die Bürger und Bürgerinnen am meisten Gebrauch machen.

Ist-Situation

Vorschlag der Obleute von SPD, Grünen und FDP

Ist-Situation

Vorschlag der Obleute von SPD, Grünen und FDP

Keine Stimme im Papierkorb

Mithilfe einer Nebenstimme ließe sich dieser Missstand vermeiden. Sie kommt immer dann zur Geltung, wenn jemand für eine Partei votiert hat, die keine 5 Prozent der Stimmen erreicht. Diese Partei zieht zwar auch dann nicht ins Parlament ein. Aber deren Wähler und Wählerinnen bleiben von der politischen Willensbildung nicht wie bisher kurzerhand ausgeschlossen, sondern ihre Stimmen schlagen sich in der Zusammensetzung des Parlaments nieder, und zwar schlicht dadurch, dass sie nicht mehr – wie jetzt – den Parlamentsparteien entsprechend ihrer Größe zugutekommen.

Das bedeutet, dass die Wähler und Wählerinnen ohne taktisches Überlegen ihr Kreuz bei der ihnen sympathischsten Partei machen können, ohne fürchten zu müssen, dass ihre Stimme im Papierkorb landet. Zudem unterbliebe die Verfälschung des Wählerwillens, zu der es im gegenwärtigen System durchaus kommen kann. Als bei der Bundestagswahl 2013 FDP und AfD, zwei nicht-linke Parteien, knapp an der Fünfprozenthürde scheiterten, wurde aus einer linken Stimmenminderheit eine (in der Regierungsbildung freilich ungenutzt gebliebene) linke Mandatsmehrheit im Parlament.

Eckhard Jesse hatte von 1993 bis 2014 eine Professur im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz inne. Der Parteien- und Wahlforscher war von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen -Gesellschaft für Politikwissenschaft.

Eckhard Jesse hatte von 1993 bis 2014 eine Professur im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz inne. Der Parteien- und Wahlforscher war von 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen -Gesellschaft für Politikwissenschaft.

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