DIGITALISIERUNG

Mehr digitale
Souveränität

Deutschland muss digitale und technologische Selbstbestimmung anstreben. Erst dann sind auch digitale Produkte möglich, die dem Ruf „Made in Germany“ gerecht werden.

TEXT: ANN CATHRIN RIEDEL UND TERESA WIDLOK

DIGITALISIERUNG

Mehr digitale Souveränität

Deutschland muss digitale und technologische Selbstbestimmung anstreben. Erst dann sind auch digitale Produkte möglich, die dem Ruf „Made in Germany“ gerecht werden.

TEXT: ANN CATHRIN RIEDEL UND TERESA WIDLOK

Wie schmerzhaft Abhängigkeiten sind, spüren gerade alle Menschen in Deutschland. Die Auswirkungen, insbesondere der Abhängigkeit von russischem Gas, machen sich unmittelbar in den Portemonnaies bemerkbar. Auch hinter den steigenden Nahrungsmittelpreisen, der hohen Inflationsrate und der womöglich einsetzenden Lohn-Preis-Spirale stehen Abhängigkeiten. Darin werden jahrelange politische Naivität und Nachlässigkeit auf einmal offensichtlich. Das Vergangene lässt sich nicht mehr ändern. Aber für die Zukunft sollte die Politik strategischer handeln. Das ist nicht nur angesichts der sich anbahnenden Energiekrise das Gebot der Stunde, sondern auch mit Blick auf weitere Abhängigkeiten, die rasch zu Krisen heranwachsen können. Sie gilt es endlich ernster zu nehmen – allen voran die digitalen und technologischen Abhängigkeiten. Das betrifft Deutschland als Hochindustrieland ebenso wie den Binnenmarkt der Europäischen Union als größten gemeinsamen Wirtschaftsraum der Welt.

Die deutschen Unzulänglichkeiten im Digitalen hat nicht erst die Corona-Pandemie gezeigt. Die globalen Abhängigkeiten Deutschlands waren auch schon vor den erhöhten Spannungen in der Taiwanstraße bekannt. Und doch ist das Thema digitale und technologische Souveränität noch nicht in dem Maße auf der politischen Agenda angekommen, wie es angemessen wäre.

Mit Blick auf die sicherheitspolitische Zeitenwende hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung am 27. Februar gefragt: „Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft?“ Und er stellte fest: „Europa ist unser Handlungsrahmen. Nur wenn wir das begreifen, werden wir vor den Herausforderungen unserer Zeit bestehen.“ Auch über die Klärung digitaler Abhängigkeiten sollten wir auf diese Weise nachdenken. Zum einen gilt es zu fragen: Welche Fähigkeiten brauchen wir in Deutschland und Europa, um heute und in Zukunft zu bestehen? Und zum anderen: Wie sehen unsere technologischen und digitalen Abhängigkeiten aus? Welches Leitbild für mehr Unabhängigkeit haben wir?

Eine Frage der Partnerschaften

Im Hintergrund dieser Fragen steht die Idee der digitalen Souveränität. Man hat darunter lange Selbstbestimmung im Informationszeitalter auf rein individueller Ebene verstanden. Das war nicht falsch – aber zugleich hätte man sich mehr mit der kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der digitalen Souveränität auseinandersetzen sollen.

Die heutigen Abhängigkeiten belegen die jahrelange politische Naivität und Nachlässigkeit.

Der IT-Planungsrat, ein politisches Steuerungsgremium von Bund und Ländern, hat sich im Jahr 2020 auf eine Definition von digitaler Souveränität geeinigt, nach der es hierbei um „die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen und Institutionen“ geht, „ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können“. Damit verbinden sich drei strategische Ziele: eine Wechselmöglichkeit, eine Gestaltungsfähigkeit und ein Einfluss auf Anbieter.

Der IT-Planungsrat, ein politisches Steuerungsgremium von Bund und Ländern, hat sich im Jahr 2020 auf eine Definition von digitaler Souveränität geeinigt, nach der es hierbei um „die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Individuen und Institutionen“ geht, „ihre Rolle(n) in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben zu können“. Damit verbinden sich drei strategische Ziele: eine Wechselmöglichkeit, eine Gestaltungsfähigkeit und ein Einfluss auf Anbieter.

Dafür wiederum bedarf es einer Vielfalt von Anbietern, der notwendigen Gestaltungsmacht und guter Beziehungen zu gleichgesinnten Partnern. Darum gilt es, sich auch aus dieser Perspektive für einen freien und fairen Markt einzusetzen. Digitale Souveränität bedeutet also in keinem Fall Abschottung oder Autarkie. Sie verlangt auch nicht das pauschale Verbot bestimmter Anbieter oder Technologien, obgleich nun geopolitische Überlegungen stärker zu berücksichtigen sind.

Die Zeitenwende hat Deutschland und seine Partner wieder näher zusammen gebracht. Dieser Schulterschluss ist auch dafür wichtig, auf den globalen Märkten die technischen Standards mitzugestalten. Desinteresse für die technischen Details ist hier ebenso fehl am Platz wie Naivität und Nachlässigkeit. Damit überlässt man das Feld nur anderen Akteuren, die schon heute ihre Vorstellungen global durchzusetzen suchen – zum Beispiel China. Die Volksrepublik nutzt seit Jahren ökonomische Verflechtungen und Abhängigkeiten aus, um Kritik an der Kommunistischen Partei zu unterdrücken, an Menschenrechtsverletzungen oder an der Ein-China-Politik, nach der auch Taiwan zu China gehört, wie Festlandchina, Macau und Hongkong. Die Volksrepublik ist darüber hinaus auch bemüht, ihre Technologien in aller Welt zu verbreiten und dadurch schleichend zum globalen Standard auszubauen.

Technische Standards entscheiden

Die Erkenntnis, dass der Westen durch diese Strategie in Konflikt mit seinen demokratischen und menschenrechtlichen Werten gebracht wird, reifte in Ansätzen schon während der Debatte um den Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes. Die Debatte endete jedoch genau da, wo sie eigentlich wichtig wurde: bei der Normierung von Standards für die Netze der Zukunft, also für alles, was auf den 5G-Mobilfunkstandard folgt. Wenn der Westen hier weiter schlafmützig handelt, könnte es zu weiteren, noch tiefer greifenden Verflechtungen Chinas kommen als bisher. Denn sind technische Standards einmal etabliert und ist eine digitale Infrastruktur – wie ein 5G-Netz oder ein Unterseekabel – erst einmal gelegt, wird es schwer bis unmöglich, zu vertrauenswürdigeren Anbietern zu wechseln.

Während China die Welt von sich abhängiger zu machen sucht, sorgt seine Führung dafür, dass das Land selbst möglichst von niemandem abhängig ist. Dies zeigt sich beispielhaft am Vorhaben eines „souveränen“ chinesischen Internets. Schon früh verschloss man Anbietern wie Facebook und Twitter den chinesischen Markt und stellte heimische Alternativen bereit. Es gibt aber auch einen Punkt, an dem China besonders abhängig und damit verwundbar ist: die Produktion von Chips der neuesten Generation. Ausgerechnet Taiwan, der demokratische Staat, den China sich einverleiben möchte, ist auf diesem Gebiet mit seinen Unternehmen wie TSMC globaler Vorreiter. Nicht nur China ist von Halbleitern aus Taiwan abhängig. Die Chip-Produktion dort ist teilweise so hoch spezialisiert, dass es wohl nicht möglich wäre, sie in fünf bis zehn Jahren an anderer Stelle aufzubauen. Auch in Deutschland bekamen beispielsweise die Autohersteller während der Corona--Pandemie zu spüren, was es bedeutet, wenn die Lieferketten reißen und andere, näher gelegene Hersteller nicht aushelfen können.

Die Krisen der jüngsten Zeit, einschließlich des Krieges, sollten klargemacht haben, dass Abhängigkeiten ein ernsthaftes Problem für Wirtschaft und Gesellschaft darstellen, ebenso wie für den Staat. Deshalb ist eine nachhaltige digitale Souveränität so wichtig, dank derer Individuen und Institutionen ihre Rollen in der digitalen Welt selbstständig, selbstbestimmt und sicher ausüben können. Um diese Souveränität zu erreichen, muss Deutschland als international vernetztes Exportland mindestens stärker europäisch denken. Besser noch: Deutschland sollte globale Allianzen mit gleichgesinnten Partnern schmieden und fördern. Infrage kommen neben den Vereinigten Staaten sicher auch Kanada, Japan und Taiwan.

Bisher sind Deutschland und die EU besonders gut da-rin, rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen und Standards zu definieren, die sich global auswirken. Nachdem die EU die „Digitale Dekade“ ausgerufen hat, setzte nicht etwa ein Wettbewerb der Ideen ein, sondern man begann direkt mit der Regulierung. Doch digitale Souveränität lässt sich nicht allein durch rechtliche Rahmenbedingungen und mit dem Verweis auf den gebotenen Schutz von Bürger- und Menschenrechten erreichen. Dafür bedarf es vielmehr der Angebote und Produkte, die von diesen Rechten ausgehen und deren Attraktivität Nachfrage in aller Welt erzeugt.

Hoheit über die Infrastruktur

Deutschland muss also dahin kommen, digitale Produkte und Technologien anzubieten, deren Ruf einem „Made in Germany“ oder „Made in EU“ des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Das beinhaltet zwingend den Schutz aller in der EU geltenden Rechte. Es geht nicht darum, Google, Amazon oder Facebook nachzuahmen oder Alternativen dazu bereitzustellen, wie es etwa China tut. 

Vielmehr gilt es, gemeinsam mit strategischen Partnern Schlüsseltechnologien zu bestimmen, in denen man mit viel mehr finanziellen Mitteln als bisher Forschung und Entwicklung vorantreibt. Zudem ist es wichtig, die Hoheit über die physische und logische Infrastruktur beizubehalten und zu fördern. Die „Global Gateway“-Initiative der EU und der „Trade and Technology Council“ der EU und Amerikas sind erste gute Ansätze, zuzüglich zur Stärkung internationaler Institutionen wie der Internationalen Fernmeldeunion (ITU), des Internet Governance Forum (IGF) und der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN).

Weder regulativer Übereifer noch Schockstarre wären die richtige Reaktion auf die großen Herausforderungen, vor denen Deutschland und die gesamte EU in Sachen digitaler Souveränität stehen. Es gilt, vom langfristigen Ziel her zu denken und viele kleine Fortschritte anzustoßen – im Digitalen wie auch sonst.

10 Punkte auf dem Weg
zu mehr digitaler Souveränität

Dessen überragendes Ziel: die Elastizität der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft zu erhöhen, um den Engpässen am Arbeitsmarkt zu begegnen. Das Instrument: eine neue Angebotspolitik, die alles ermöglicht, was einen agilen Arbeitsmarkt befördert. Damit verknüpfen sich sieben Imperative:

1.

Digitale Souveränität als Moonshot-Projekt begreifen und europäisch angehen.

2.

Abhängigkeiten im Bereich von Technologien und digitalen Diensten erkennen und ein umfassendes Verständnis von digitaler Souveränität etablieren.

3.

Fähigkeiten-Lücken im Digitalen erkennen und (bestenfalls europäisch) Strategien aufbauen, um diese zu schließen.

4.

Strategische Technologien fördern, um Abhängigkeiten entlang globaler Lieferketten zu verringern und Kompetenzen aufzubauen (z. B. bei Chips, KI, Edge- und Quantencomputing und 5G/6G).

5.

Den Transfer zu marktreifen digi-talen Produkten und Technologien fördern, die das „Made in Germany“ oder „Made in Europe“ des 21. Jahrhunderts werden können.

6.

Die Hoheit über physische und -logische Infrastrukturen beibehalten und fördern.

7.

Weitere globale rechtliche Standardsetzung über digitale Regulierung aus der EU heraus betreiben.

8.

Gemeinsam mit Partnern demokratische und menschenrechtsbasierte Werte in globale technische Standardisierungsprozesse einbringen.

9.

Allianzen mit gleichgesinnten Partnern aufbauen und fördern (z. B. im Rahmen des Trade and Technology Council, TTC).

10.

Internationale Zusammenarbeit, auch mit dem globalen Süden, auf Augenhöhe betreiben, um Entscheider bei Standards auf unsere Seite zu bringen.

Ann Cathrin Riedel managt Digitalisierung & Innovations-Themen bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Teresa Widlok ist Leiterin des Team Recht und Revision sowie Justiziarin der Stiftung. 

Ann Cathrin Riedel managt Digitalisierung & Innovations-Themen bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Teresa Widlok ist Leiterin des Team Recht und Revision sowie Justiziarin der Stiftung. 

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