KRIEG IN EUROPA

Es geht um unsere Freiheit

Die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern auch für die Friedensordnung in Europa.

TEXT: JOSEF JOFFE


KRIEG IN EUROPA

Kampf für die Freiheit

Die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern auch für die Friedensordnung in Europa.

TEXT: JOSEF JOFFE

Wie Kriege beginnen, weiß man immer; wie sie ausgehen, nie. Die historische Erfahrung besagt: Angreifer reüssieren am Anfang, nicht am Ende. Napoleon kam bis nach Moskau, wurde aber 1815 endgültig geschlagen. Wilhelm II. wähnte, er könne im Angriff den Westen bezwingen, bevor im Osten die Dampfwalze der russischen Mobilisierung kampfbereit war. Doch vier Jahre später war das Kaiserreich perdu. Japans und Hitler-Deutschlands Eroberungskriege endeten in der totalen Niederlage. Dem arabischen Angriff im Jom-Kippur-Krieg 1973 folgte Israels Marsch über den Suezkanal Richtung Kairo. Aggression ist meistens ein Verlustgeschäft.

Womöglich droht dem Aggressor Putin ein ähnliches Schicksal in der Ukraine. Im siebenten Monat des russischen Überfalls gibt es drei gute Nachrichten; sie sind das Wunder des 24. Februar. Erstens: Der gesamte Westen (außer Ungarn) rottete sich zusammen: von Europa bis nach Fernost und Ozeanien. Dieses Wunder war keine Eintagsfliege. Selbst die Deutschen, die sich gern als „Friedensmacht“ ihre „Kultur der Zurückhaltung“ bescheinigen (sprich: „Lasst uns da raus!“), sind im Gespann. Sie liefern sogar schwere Waffen, die sie monatelang nicht aufstöbern konnten – wo sind bloß diese Marder und Geparde geblieben? Es fließen immer mehr Gerät und Munition. Und im Sommer verhängte der Westen das siebente Sanktionspaket gegen Moskau.

Zweitens: Alle Koalitionen stehen unter dem Vorbehalt „rebus sic stantibus“; sie halten, solange sich die Dinge nicht ändern. Im Verlauf scheren manche der Beteiligten aus oder schließen separate Deals mit dem Gegner. Doch die aktuelle Allianz des Westens hält und wächst sogar. Wer hätte gedacht, dass zwei ewig Neutrale – Finnland und Schweden – plötzlich in die Nato drängen? Bestimmt nicht Putin, der nun zwei wehrhafte Nationen an seiner Nordwestflanke gewärtigen muss.

Drittens: Die ebenso tapferen wie gewieften Krieger der Ukrainer haben Putins Traum vom Blitzsieg zerstört. Von Februar bis Juli sind nach Angaben der ukrainischen Regierung auf russischer Seite 38 000 Gefallene, 1700 Kampfpanzerverluste, 3900 zerstörte Panzerfahrzeuge, 400 verlorene Kampflugzeuge und Helikopter sowie 15 zerstörte Schiffe zu verbuchen. Selbst wenn diese Zahlen geschönt sind, offenbaren sie mörderische Verluste.

Versuchte Mittelmächte

Inzwischen hat Putins Soldateska ihren Schwerpunkt auf den Osten und den Süden verlagert, wo Odessa im Visier ist. Die ukrainischen Truppen attackieren den Gegner direkt, während Putins Kräfte aus sicherer Distanz einen Bombenkrieg gegen Unbewaffnete, Krankenhäuser, Shoppingcenter und die zivile Infrastruktur führen. Daraus darf auch ein Laie schließen, dass der Krieg nicht gut für den Tyrannen läuft, der neuerdings im ganzen Land nach Freiwilligen sucht, weil er die Zwangsmobilisierung vermeiden will. Am 24. Februar hatte er sich noch einbilden können, im Blitzkrieg besser als die Wehrmacht 1939 in Polen abzuschneiden.

Es bleibt aber die Versuchung der europäischen Mittelmächte Deutschland und Frankreich, den Vermittler zu geben: den Bären nicht noch mehr reizen, ihn einwickeln in Verhandlungen, notfalls Geländegewinne der Russen hinnehmen, wenn auch nicht absegnen. Der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki möchte Nord Stream 2 eröffnen, die SPD-Linke spricht von einem „Einfrieren“ des Konflikts. Das wirft eine realpolitische Frage auf: Welchen Sinn hätten Verhandlungen, solange der Gegner glaubt, die Ukraine unterwerfen und den Westen mit der Drohung taktisch-atomarer Waffen einschüchtern zu können? Boris Johnson hat als britischer Premierminister die richtige Antwort gegeben: „Du kannst nicht mit einem Bären verhandeln, der dein Bein fressen will.“

Die Hauptrolle in der westlichen Allianz fällt dem ungeliebten und unberechenbaren amerikanischen Gulliver zu. Den greisen Präsidenten Joe Biden, der innenpolitisch seinem Land ein sozialdemokratisches Paradies verheißt, das die Europäische Union wie eine Hochburg des Kapitalismus erscheinen ließe, darf man für seine Außenpolitik loben. Ohne diese „unentbehrliche Nation“ (Clinton, Obama) wäre das Wunder des 24. Februar nicht geschehen. Denn Koalitionen entstehen nicht spontan, nur weil es das gemeinsame Interesse oder die moralische Pflicht so fordert. Es muss immer ein mächtiger Organisator her, der den größten Teil der Last schultert, weil er die meisten Mittel und das stärkste Interesse an einer gedeihlichen internationalen Ordnung hat.

Mittelmächten fehlt dieses Gen; ihre Belange sind regional. Die Vereinigten Staaten hingegen handeln, weil sie es können. Die Supermacht mit der weltgrößten Wirtschaft entsendet Milliarden Dollar, dazu hochintelligente Waffensysteme, über die Europa nicht verfügt, schon gar nicht die heruntergewirtschaftete Bundeswehr. Amerikas atomares Overkill-Arsenal – zwölfmal größer als das britisch-französische – gemahnt Putin an die älteste Wahrheit des Atomzeitalters: Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.

Ein amerikanisches HIMARS, ein GPS-gesteuertes mobiles Raketensystem, kann punktgenau einen russischen Nachschubzug aus 90 Kilometern Distanz zerlegen. Das Anti-Panzergeschoss Javelin kann den modernsten russischen Tank knacken. Den Europäern fehlt auch das weltraumgestützte Überwachungssystem, das den Ukrainern zumindest taktische Überraschungen ermöglicht.

Putin muss gestoppt und von der Wiederherstellung des alten Sowjetimperiums abgeschreckt werden.
Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) stößt bei US-Präsident Joe Biden auf unerwarteten Widerstand.
Russlands Präsident Wladimir Putin (l.) stößt bei US-Präsident Joe Biden auf unerwarteten Widerstand.

Energie als Waffe

Aus altruistischen Gründen handelt Amerika nicht. Das tun Großmächte nie. Diese Weltmacht hat globale Interessen, die sich im Ukraine-Fall mit regionalen und moralischen verknüpfen. Im Schlagschatten Moskaus bildet Europa seit 1945 den äußeren Ring der amerikanischen Sicherheit. Europa ist zudem eine Drehscheibe für den Einsatz in Afrika und Nahost. Folglich stockt Biden die Truppenpräsenz in NATO-Europa auf 100 000 Soldaten auf. Ein neues Hauptquartier entsteht in Polen.

Die Strategie ist offenkundig: Putin muss gestoppt und von der Wiederherstellung des alten Sowjetimperiums durch weitere Abenteuer abgeschreckt werden. Die unausgesprochene Botschaft an China ist ebenfalls deutlich: Macht in Fernost nicht den gleichen Fehler, zum Beispiel in Taiwan, wie Putin in Europa! Der Schutzschirm festigt wiederum den Zusammenhalt der Koalition. Die Schäfchen bleiben in der Herde, weil der mächtige Hirte sie gegen die Rache des bösen Wolfs absichert.

Allerdings gibt es auch nicht so erhebende Nachrichten. Erstens: Solange die Ukrainer um die schiere Existenz ihrer Nation kämpften, obsiegte ihre Kampfmoral gegen eine schlecht geführte und gerüstete russische Armee. Als Kiew auf der Kippe stand, hielten die Ukrainer den Vorteil der „inneren Linien“, um Clausewitz zu zitieren. Im Südosten sind die Russen dichter dran, die Nachschubketten kürzer. Zudem kann Putin hier auf russischsprachige Bevölkerungsteile zurückgreifen. Folglich: Für die Ukrainer war die Verteidigung in der ersten Phase des Krieges einfacher, als in der zweiten und nächsten Phase die Rückeroberung sein wird. Es droht ein Zermürbungskrieg, der auch den westlichen Zusammenhalt bedroht.

Zweitens: Putin versteht es, auf der ökonomisch-politischen Klaviatur zu spielen. Im Juli floss plötzlich wieder Gas durch Nord Stream 1, die direkt von Russland nach Deutschland führt, dem schwächsten Glied in der Koalitionskette. Das Signal könnte klarer nicht sein: Wir drosseln mal auf 40, mal auf 20 Prozent. Wir können auch wieder auf null gehen (wie zeitweise im August), wenn ihr euren Wackelkurs bei der Bewaffnung der Ukraine zugunsten eines vollen Engagements aufgebt.

Ein Rennen gegen die Zeit

Schließlich: Europa läuft ein Rennen gegen die Zeit. Die Frage lautet: Frieren für Kiew? Sie könnte im Winter gegen die Ukraine entschieden werden, wenn es inzwischen nicht gelingt, die sträfliche Abhängigkeit von russischer Energie auf ein tolerables Niveau zu senken. Italien könnte das schaffen. In Berlin aber träumen sie von der Quadratur des Kreises. Das Land soll sich von den fossilen Kraftstoffen aus Russland verabschieden und auf Sonne und Wind setzen.

Die Zeitachsen passen nicht zusammen: hier die Gaswaffe, die Putin täglich manipulieren kann, dort die lichte Zukunft der Erneuerbaren, die noch Jahrzehnte weit weg ist. Fracking ist in Deutschland, wo in Niedersachsen reichlich Gas im Untergrund liegt, des Teufels. Aber ausgerechnet die Grünen reden plötzlich über verlängerte Laufzeiten für Atomkraftwerke und einen Rückgriff auf die Kohle. Die Not schärft den Realismus. Und noch ein Lichtblick: Putin findet so schnell keine anderen Abnehmer für sein Gas; es gibt bislang nur eine Röhre nach China; die Verlegung einer zweiten wird dauern.

Grundsätzlich: Die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern auch für uns – für eine 77 Jahre alte europäische Friedensordnung, die Putin in seinen imperialen Träumen zerstören will. Es gibt keine andere Wahl, als mit langem Atem das Beste aus westlichen Arsenalen zu liefern und die Sanktionen beizubehalten. Die Kosten für Europa sind enorm, aber man mag sich keine Zukunft vorstellen, in der die russische Armee an den Grenzen Polens, des Baltikums und des Südteils des früheren Warschauer Paktes steht.

Josef Joffe ist Mitglied im Herausgeberrat der „ZEIT“ und Professor für
Internationale Politik an der Johns Hopkins -School of Advanced International Studies in Washington.

Josef Joffe ist Mitglied im Herausgeberrat der „ZEIT“ und Professor für Internationale Politik an der Johns Hopkins -School of Advanced International Studies in Washington.

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