BILDUNG

Von Finnland
Lernen lernen

Vor drei Jahrzehnten haben die Finnen das deutsche Schulsystem übernommen und weiterentwickelt. Jetzt zeigt das Land, wie erfolgreiche Bildung im Zeitalter des Computers funktioniert. Top ausgebildete Pädagogen vermitteln, was keine Maschine kann: Empathie, Fantasie und Neugier.

Text: Verena Friederike Hasel

Kinder lesen in einem offenen Klassenzimmer der Kalasatama Gemeinschaftsschule in Helsinki.

BILDUNG

Von Finnland Lernen lernen

Vor drei Jahrzehnten haben die Finnen das deutsche Schulsystem übernommen und weiterentwickelt. Jetzt zeigt das Land, wie erfolgreiche Bildung im Zeitalter des Computers funktioniert. Top ausgebildete Pädagogen vermitteln, was keine Maschine kann: Empathie, Fantasie und Neugier.

Text: Verena Friederike Hasel

ine Schule in Helsinki. Die Kinder der dritten Klasse basteln aus buntem Papier kleine Blumen und schreiben auf die einzelnen Blütenblätter, was sie tröstet und stärkt: Die Kletterhalle. Ballett. Der Hund. Zeit mit dem kleinen Bruder. „Wiese der Freude“ steht am Ende über all diesen Blumen, die über die gesamte Wand des Klassenzimmers wachsen sollen. Das Fach, in dem das passiert, heißt SEL – sozioemotionales Lernen.

Den Viertklässlern liest die Lehrerin in Mathematik die Anforderungen des nationalen Curriculums vor, und gemeinsam übersetzen sie es in verständliche Worte: Ich werde negative Zahlen kennenlernen. Ich werde Runden lernen. Ich werde Brüche in Dezimalzahlen verwandeln. Die Lehrerin will nämlich nicht nur, dass die Kinder Mathe lernen. Sie sollen auch lernen, Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen. 

Die Achtklässler haben Besuch von einem Start-up-Unternehmer, der ihnen von seiner Arbeitswelt berichtet, in der nichts nach Plan verläuft. Auch über die psychischen Herausforderungen erzählt er viel, und er spricht ehrlich und offen darüber, wie er damit umging, dass er zwischendurch pleite war.

Zwischen Leseproblemen und ChatGPT

Als alle Schüler und Schülerinnen schließlich Mittagspause haben, stehen Kinder aus verschiedenen Jahrgängen mit der großen Küchenwaage bereit. Sie wiegen die Essensabfälle, und andere Kinder sagen das Ergebnis per Lautsprecher durch. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt der gesamten Schule: Binnen einer Woche wollen sie es schaffen, die Menge an Lebensmitteln, die sie wegwerfen, zu reduzieren. So geht Lernen in dem Land, das in sämtlichen Pisa-Tests immer herausragende Plätze belegt hat. In Deutschland hingegen erreicht ein Drittel der Viertklässler nicht die Mindeststandards in Rechtschreibung, wie der IQB-Bildungstrend 2021 ergab, jeder fünfte kann nicht richtig lesen und jeder vierte hat gravierende Schwierigkeiten in Mathematik. 

So erschreckend das ist: Es gibt noch andere fundamentale Probleme in unserem Bildungssystem. Vor Kurzem machte der Textgenerator ChatGPT Furore. Lernende Systeme wie dieses werden unser Leben extrem verändern. Schon jetzt entziffert künstliche Intelligenz jahrtausendealte Keilschriften, und Computerprogramme können Brustkrebs besser erkennen als Ärzte. Unser Bildungssystem ignoriert diese Entwicklung. An deutschen Schulen werden Kinder weiterhin mit Methoden von gestern für die Welt von morgen vorbereitet. Angesichts der Tatsache, dass wir überall auf der Welt immer stärkere wechselseitige Abhängigkeiten erleben und die großen Pro-bleme unserer Zeit nur gelöst werden können, wenn man mit anderen zusammenarbeitet, sollte interdisziplinärer, fächerübergreifender Unterricht die Norm sein. Wie in Finnland. Und genau wie dort sollte man sich darauf besinnen, den Kindern das mitzugeben, was genuin menschliche Fähigkeiten sind: Empathie. Fantasie. Neugier. Verantwortungsbewusstsein. Mitgefühl. Unrechtsbewusstsein. Wann fangen wir endlich damit an? Und was müsste sich im deutschen Bildungssystem strukturell ändern, damit das gelingt?

Fragt man finnische Lehrkräfte, wie sie ihren Studienplatz bekamen, erzählen sie wie von der Bewerbung
bei einer Unternehmensberatung.

Strenge Auswahl, gute Lehrerausbildung

Der Vergleich mit Finnland ist deshalb so fruchtbar, weil der skandinavische Staat das deutsche Schulsystem einst übernommen hat. Als in den Neunzigerjahren die Sowjetunion zusammenbrach und damit ein wichtiger Handelspartner wegfiel, bekamen die Finnen Angst. Was sollte wirtschaftlich aus ihnen werden? Ihr Land besaß keine Rohstoffe, es hatte nur seine Menschen. Also beschloss man, auf diese zu setzen, und baute das Schulsystem um. Im Zentrum der Reform standen die Autonomie der Schulen und eine andere, bessere Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer.

Wenn man sich heutzutage mit finnischen Lehrkräften darüber unterhält, wie sie ihren Studienplatz bekamen, könnte man meinen, sie würden von einer Bewerbung bei einer Unternehmungsberatung erzählen: ein mehrstufiges Auswahlverfahren, zunächst ein schriftlicher Teil, anschließend muss man einem mehrköpfigen Gremium Rede und Antwort stehen; manchmal gibt es auch ein Gruppeninterview mit den Bewerbern. Wer noch nie mit Kindern gearbeitet hat und nicht schlüssig darlegen kann, warum er unbedingt als Lehrer arbeiten will, hat keine Chance. Im Studium selbst liegt der Schwerpunkt dann auf Pädagogik, Lern- und Kognitionspsychologie. Diese sorgfältige Auswahl und die hohe Qualifizierung der Lehrer gehören zu den zentralen Gründen für das gute finnische Bildungssystem. 

In Deutschland reden wir viel über Noten, Hausarbeiten und Klassengrößen, als hänge die Unterrichtsqualität vor allem davon ab. Über ein sehr wichtiges Thema sprechen wir viel zu wenig, vielleicht weil es weniger plakativ und eingängig ist: das Stundendeputat. So bezeichnet man die Anzahl der Stunden, die ein Lehrer wöchentlich mit Unterrichten verbringt. Finnische Lehrerinnen und Lehrer haben ein deutlich geringeres Stundendeputat als deutsche Lehrer – und das aus gutem Grund: Den fächerübergreifenden Unterricht, den man sich fürs 21. Jahrhundert wünscht, bekommt man nur hin, wenn man Lehrern Kooperationszeit einräumt. In Finnland habe ich die Lehrer und Lehrerinnen ständig in Besprechungen miteinander erlebt, sie planten gemeinsam Stunden und Projekte, besuchten einander im Unterricht – und hatten dafür auch Stunden vorgesehen. In Deutschland fehlen diese Voraussetzungen.

An finnischen Schulen haben Kinder oft Gelegenheit zum eigenständigen Lesen und sind viel an der frischen Luft. Die Lehrerinnen und Lehrer unterrichten weniger Stunden. Dafür koordinieren sie gemeinsam, wie sie Kinder mit speziellen Bedürfnissen ideal fördern – etwa durch Betreuung in kleinen Gruppen. So gelingt die Inklusion in Finnland besser: Man hat verstanden, dass eine wohl durchdachte Prävention einfacher und wirksamer ist als alles, was später ansetzt.

Die Vorschule legt das Fundament

Spricht man mit finnischen Lehrern darüber, was unverzichtbar für den Lernerfolg ihrer Schüler ist, erwähnen viele etwas, was Deutschland vor Jahren abgeschafft hat. In Finnland gibt es ein verpflichtendes Vorschuljahr, in dem das soziale, emotionale und sprachliche Fundament für die weitere Schulzeit gelegt wird. Vor dem Übertritt in die erste Klasse findet dann eine Konferenz statt, in denen die Lehrer und Sonderpädagogen der Vorschule und der Schule sich darüber austauschen, welche Hilfe und Unterstützung ein Kind braucht, damit Inklusion von Anfang an gelingt. Oft werden schon Erstklässler mit Förderungsbedarf für einzelne Stunden aus der Klasse herausgenommen und lernen in kleineren Gruppen. Das soll die Lehrer entlasten und den Kindern Erfolgserlebnisse ermöglichen. Eines hat man in Finnland nämlich verstanden: Intensive und wohl durchdachte Präventivmaßnahmen sind einfacher und wirksamer als alles, was später ansetzt.

Und schließlich: Sozioemotionales Lernen ist im finnischen Curriculum fest verankert. Jede Bildungseinrichtung muss nachweisen, dass sie Kindern diese Kompetenzen in irgendeiner Weise vermittelt. An der Schule in Helsinki stehen die nächsten Themen in SEL schon fest: Selbstdisziplin. Heimat. Freundschaft. Träume.

Verena Friederike Hasel ist Psychologin und Autorin. Für die Recherche zu ihrem neuen Buch hospitierte sie an finnischen Schulen. Es erscheint im Sommer 2023.

Verena Friederike Hasel ist Psychologin und Autorin. Für die Recherche zu ihrem neuen Buch hospitierte sie an finnischen Schulen. Es erscheint im Sommer 2023.

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