Texte zum Liberalismus #1

Falsche Vulgarisierung liberaler Freiheit

Universelle Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parlamentarismus gelten heute ohne Zweifel als Garanten freiheitlicher Ordnungen. Aber was bedeutet das für den Liberalismus, der diese Errungenschaften möglich macht? 

Text: Elif Özmen


Texte zum Liberalismus #1

Falsche Vulgarisierung liberaler Freiheit

Universelle Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parlamentarismus gelten heute ohne Zweifel als Garanten freiheitlicher Ordnungen. Aber was bedeutet das für den Liberalismus, der diese Errungenschaften möglich macht? 

Text: Elif Özmen


Wenn es den Liberalismus nicht gäbe, müsste man ihn erfinden. Als Feindbild dient er jedenfalls ganz unterschiedlichen politischen Bewegungen. So beschwören autokratische, nationalistische und traditionalistische Politiken ihr konservatives Potenzial gegenüber der egoistischen, unsittlichen und dekadenten liberalen Lebensform. Dagegen kritisieren radikaldemokratische, internationalistische und sozialistische Bewegungen die Ausbeutungs- und Verelendungsmechanismen, die mit der liberalen Wirtschafts- und Sozialordnung unweigerlich verbunden seien. Von der Erosion ethischer, kultureller und nationaler Bindungen, den gesellschaftlichen Spaltungen und moralischen Verwerfungen über die Entfremdung von Familie, Kirche, Arbeit und Vaterland bis hin zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der Krise der Demokratie: Für zahlreiche Pathologien der Gegenwart wird „der Liberalismus“ verantwortlich gemacht.

Langlebige Feind- und Zerrbilder

Jedoch bedienen sich nicht nur die Verächter des Liberalismus, sondern auch manche Apologeten eines Zerrbildes, um ihre eigene (und eigentümlich schlichte) Position zu schärfen. Ein solcher Vulgärliberalismus, dem man zumeist in öffentlichen und sozialmedialen Arenen begegnet, agitiert im Namen der Freiheit für die Minimalisierung von Staatlichkeit, die Entfesselung der Märkte, den Verzicht auf Gemeinwohlorientierung und das Recht, sich jeden Erfolg als Verdienst, jeden Misserfolg aber als persönliches Versagen zuschreiben zu lassen. Ohnehin schließe Freiheit die Freiheit ein, das Dumme, Irrationale, Abwegige, Unmoralische und Schädliche tun zu können, ohne andere um Erlaubnis bitten, noch deren Bitten um Mäßigung, Gerechtigkeit oder (Selbst-)Achtung berücksichtigen zu müssen. Schließlich beginne die Freiheit beim Ich und – das ist die Pointe – ende auch beim Ich.

Solche Feind- und Zerrbilder des Liberalismus sind kein Gegenwartsphänomen, sondern begleiten ihn seit seinen ideengeschichtlichen Anfängen im 17. Jahrhundert. Eine historische Phänomenologie des Liberalismus legt eine Tradition offen, die verschiedene Theorieströmungen umfasst (wie Rechtsstaats-/ Kulturliberalismus, Wirtschafts-/Gesellschaftsliberalismus, Sozial-/Nationalliberalismus, klassischer, moderner und Neo-Liberalismus) und die es erlaubt, soziale Bewegungen, politische Parteien, philosophische Ideen, auch Geistes- und Lebenshaltungen als „liberal“ zu kennzeichnen. Aber man sieht in den alten und neuen Anatomien des Antiliberalismus auch, dass die Geschichte des Liberalismus von der Geschichte seiner Kritik flankiert wird. Wie sollte es auch anders sein bei einer politikphilosophischen Theorie, die einen solchen praktischen Erfolg gezeitigt hat, nicht zuletzt in der Form der modernen säkularen pluralistischen Demokratie mit den Prinzipien des Rechts- und Verfassungsstaats, der Gewaltenteilung, des Parlamentarismus und der universellen Menschenrechte? Oder ist es gerade dieser historische Erfolg, der nunmehr einen Niedergang anzeigt gemäß der Phrase, dass sich der Liberalismus totgesiegt habe, weil ihm die relevanten Gegner ausgegangen seien?

Liberalismus ist keine monolithische Theorie

Die Antwort, das heißt die Plausibilität einer Erfolgs- oder Verfallsgeschichte des Liberalismus hängt in hohem Maße davon ab, was Liberalismus ist bzw. ob seinen aktuellen Feind- und Zerrbildern eine angemessene Darstellung – und damit auch ein würdiger Gegner – entgegengestellt werden kann. Das ist weniger trivial, als es klingt. Schon aus ideengeschichtlicher Perspektive ist augenfällig, dass der Liberalismus keine monolithische Theorie darstellt. Die klassischen Werke von John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Adam Smith und John Stuart Mill zeigen nicht nur Unterschiede, sondern auch Gegensätze auf. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten benennen, die es erlauben, trotz aller Unterschiede im Detail von einer Theorietradition zu sprechen, die sich über verschiedene Zeiten, Orte sowie Autorinnen und Autoren hinweg identifizieren lässt.

Das gilt vor allem für den normativen Kern des Liberalismus, das Trio liberale von Individualismus, Freiheit und Gleichheit. Der Liberalismus nimmt seinen historischen wie auch systematischen Anfang in einem normativen Individualismus, dem zufolge die Legitimität staatlicher Institutionen und Handlungsbefugnisse gegenüber jedem und gleichzeitig durch jedes Individuum erwiesen werden kann und muss. Dabei wird die staatliche Gewalt und die Rechtsordnung auf eine prinzipielle Freiheitsvermutung festgelegt, die sich in einer Verfassung der Freiheit realisiert. Zudem meint liberale Freiheit stets gleiche Freiheit: Allen kommen die gleichen Freiheitsansprüche zu. Somit sind Gleichheit, Freiheit und Individualismus unverzichtbare und nicht aufeinander reduzierbare Kennzeichen des Liberalismus, die nicht nur miteinander vereinbar, sondern auf eine spezifische Weise miteinander verschränkt sind.

Nicht die Geltung der Freiheit, sondern ihre Einschränkung oder Verletzung bedarf der Legitimation.

Der Beginn der Freiheit

Für das liberale Freiheitskonzept bedeutet das erstens, dass es zuzutreffen scheint, dass Freiheit beim Ich beginnt. Der Einzelne gilt, ganz unabhängig von Status, Leistung und Vermögen, als unverwechselbare, unvergleichbare, unersetzbare und unverfügbare Persönlichkeit mit individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen und Lebensplänen. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Wesens- und Lebensart wird ermöglicht und gesichert durch individuelle Freiheitsbereiche. Dafür stehen die häufig „liberal“ genannten Grundrechte in den internationalen Menschenrechtspakten, der Europäischen Charta oder dem deutschen Grundgesetz, die jedem Menschen die rechtliche (und moralische) Macht zusichern, den Handlungen Dritter – seien es Individuen, Institutionen oder staatliche Gewalten – abwehrende Grenzen zu setzen.

Eine normative Grundlage

Zweitens verlangt Liberalismus eine Verfassung der Freiheit. Unveräußerliche gleiche subjektive Freiheitsrechte, die durch den Staat anzuerkennen und zu schützen sind, die Beschränkung des staatlichen Handelns auf das, was gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gerechtfertigt werden kann, Zwang als Ultima Ratio – diese freiheitlichen Grundprinzipien finden sich bei allen Vertreterinnen und Vertretern des Liberalismus. Dabei ist Freiheit normativ grundlegend: Nicht ihre Geltung, sondern ihre Einschränkung oder Verletzung bedarf der Legitimation, wobei der Staat mit seiner freiheitsbegrenzenden Zwangsbefugnis zugleich Freiheit gewähren oder neue Freiheitsräume schaffen muss. In ebendieser Bewahrungsnotwendigkeit und dem Vorrang der Freiheit unterscheidet sich die liberale von anderen normativen Ordnungen, die etwa Gleichheit, Anerkennung, Gerechtigkeit oder das Gemeinwohl zum Zweck staatlichen Handelns erklären. Daher hat Isaiah Berlin recht, wenn er erklärt: „Jedes Ding ist das, was es ist: Freiheit ist Freiheit – und nicht Gleichheit oder Fairneß oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder gutes Gewissen.“

Der Beginn der Freiheit

Für das liberale Freiheitskonzept bedeutet das erstens, dass es zuzutreffen scheint, dass Freiheit beim Ich beginnt. Der Einzelne gilt, ganz unabhängig von Status, Leistung und Vermögen, als unverwechselbare, unvergleichbare, unersetzbare und unverfügbare Persönlichkeit mit individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen und Lebensplänen. Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, Wesens- und Lebensart wird ermöglicht und gesichert durch individuelle Freiheitsbereiche. Dafür stehen die häufig „liberal“ genannten Grundrechte in den internationalen Menschenrechtspakten, der Europäischen Charta oder dem deutschen Grundgesetz, die jedem Menschen die rechtliche (und moralische) Macht zusichern, den Handlungen Dritter – seien es Individuen, Institutionen oder staatliche Gewalten – abwehrende Grenzen zu setzen.

Eine normative Grundlage

Zweitens verlangt Liberalismus eine Verfassung der Freiheit. Unveräußerliche gleiche subjektive Freiheitsrechte, die durch den Staat anzuerkennen und zu schützen sind, die Beschränkung des staatlichen Handelns auf das, was gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gerechtfertigt werden kann, Zwang als Ultima Ratio – diese freiheitlichen Grundprinzipien finden sich bei allen Vertreterinnen und Vertretern des Liberalismus. Dabei ist Freiheit normativ grundlegend: Nicht ihre Geltung, sondern ihre Einschränkung oder Verletzung bedarf der Legitimation, wobei der Staat mit seiner freiheitsbegrenzenden Zwangsbefugnis zugleich Freiheit gewähren oder neue Freiheitsräume schaffen muss. In ebendieser Bewahrungsnotwendigkeit und dem Vorrang der Freiheit unterscheidet sich die liberale von anderen normativen Ordnungen, die etwa Gleichheit, Anerkennung, Gerechtigkeit oder das Gemeinwohl zum Zweck staatlichen Handelns erklären. Daher hat Isaiah Berlin recht, wenn er erklärt: „Jedes Ding ist das, was es ist: Freiheit ist Freiheit – und nicht Gleichheit oder Fairneß oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder gutes Gewissen.“

Individuelle und bürgerschaftliche Freiheit

Drittens ist Freiheit aber nicht einfach nur intrinsisch gut, sondern bestimmte grundlegende Freiheiten sind in Hinsicht auf etwas gut. „Freiheit ist Freiheit“ wird zu einer Leer- oder Pathosformel, wenn man nichts über den Grund und den Wert der Freiheit für das Individuum und die nach freiheitlichen Prinzipien geordnete Gesellschaft zu sagen hat. Eine liberale Axiologie der Freiheit kann pluralistisch verfahren: Freiheit kann als Garant fundamentaler Menschenrechte gelten (Locke), als Voraussetzung von Selbstbestimmung, Würde und Verantwortung (Kant), als gemeinschaftlich ausgeübte Souveränität (Rousseau), als Mittel zur Realisierung von Nützlichkeit (Mill) oder Selbstverwirklichung (von Humboldt), als Interesse höchster Stufe (Rawls). Auf die Frage „Warum überhaupt Freiheit?“ gibt es also nicht bloß eine liberale Antwort. Allerdings ist die Familie liberaler Theorien durch die Vorstellung eines Vorrangs der Freiheit geeint. Hierdurch wird nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine individuelle und bürgerschaftliche Verfassung der Freiheit ermöglicht und gesichert: die Möglichkeit, sich ungehindert durch andere betätigen zu können, mit anderen zusammenzuleben und dabei doch man selbst zu bleiben oder das zu werden, was man will.

Über das Ich hinaus

Viertens mag die Freiheit beim Individuum beginnen und mögen die Befugnisse Dritter bei den Freiheitsrechten des Einzelnen auch enden. Aber die individuelle Freiheit endet keineswegs beim Ich, wie es die vulgären Verteidiger und Ankläger des Liberalismus gleichermaßen propagieren. Meine Freiheit findet ihre Grenze da, wo die Freiheit anderer beginnt und durch mein Verhalten eingeschränkt oder gar verletzt werden könnte. Zwar lässt sich Freiheit „atomistisch“, als das unbeschränkte natürliche Recht auf alles und jeden, verstehen. Aber eine solche libertäre oder anarchische Freiheit ist nicht die Regel, sondern der Sonderfall des Liberalismus, der die Sozialität, Kooperationsfähigkeit und auch Bedürftigkeit der Individuen weder leugnet noch marginalisiert oder verächtlich macht. Die sozialen, ethischen, ökonomischen und politischen Dimensionen der liberalen Freiheit, die sich aus einer ideengeschichtlichen Schau leicht erschließen lassen, werden durch einen vulgären Freiheitsbegriff nicht nur sträflich ignoriert. Eine Vulgarisierung liberaler Freiheit untergräbt vielmehr auch die normative Attraktivität des Liberalismus. Dass die liberale Demokratie die schlechteste Regierungs- und Lebensform ist, abgesehen von allen anderen, erweist sich nicht zuletzt an einer Verfassung der Freiheit, die zwar die Freiheit des Einzelnen garantiert, aber darauf angewiesen ist, dass diese Freiheit über das Ich hinausweist.

Elif Özmen ist Professorin für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Juni dieses Jahres erscheint ihr Buch „Was ist Liberalismus?“ im Suhrkamp Verlag.

Elif Özmen ist Professorin für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Im Juni dieses Jahres erscheint ihr Buch „Was ist Liberalismus?“ im Suhrkamp Verlag.

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