RUSSLAND

Ist ein neues Russland möglich?

Im Jahr 2022 hat sich das Land von einem revisionistischen Staat in einen „Schurkenstaat“ verwandelt: eine Atommacht, die in Europa einen aggressiven Krieg mit Mitteln führt, die zuletzt vor 80 Jahren von Nazideutschland eingesetzt wurden. Die Frage stellt sich: Kann Russland irgendwann ein normales, freiheitliches Land werden?

Text: Wladislaw Inosemzew

RUSSLAND

Ist ein neues Russland möglich?

Im Jahr 2022 hat sich das Land von einem revisionistischen Staat in einen „Schurkenstaat“ verwandelt: eine Atommacht, die in Europa einen aggressiven Krieg mit Mitteln führt, die zuletzt vor 80 Jahren von Nazideutschland eingesetzt wurden. Die Frage stellt sich: Kann Russland irgendwann ein normales, freiheitliches Land werden?

Text: Wladislaw Inosemzew

Wie könnte Russland nach Putin aussehen? Unter den vielen Sanktionen des Westens hat sich Moskau Schurken wie Iran und Nordkorea zugewandt, um Ausrüstung und Arbeitskräfte zu beschaffen. Doch auch nach zehn Monaten der Auseinandersetzung mit der Ukraine sieht Russlands Wirtschaft ziemlich solide aus. Die Meinungsfreiheit im Land hat Wladimir Putin weiter eingeschränkt. Die Emigrantenmedien bleiben so sehr auf die russische Innenpolitik fixiert, dass sie ungewollt die kämpfenden Truppen unterstützen. Im Ausland lebende Dissidenten scheinen sich nur noch für sich selbst zu interessieren und träumen von einem „besseren Russland“. Sie hängen der Illusion nach, dass das Regime von Wladimir Putin eine militärische Niederlage nicht überleben würde.

Anders die russischen Eliten, die zu Putins Zeiten herangewachsen sind. Sie sehen immer kritischer, was vor sich geht. Es gibt Chancen für eine Revolte, um die derzeitige Führungsgruppe durch ein weniger revisionistisches, oligarchisches Establishment zu ersetzen. Falls das geschieht, sollten die westlichen Regierungen der neuen Führung Bedingungen für die Rückkehr in die Gemeinschaft der anständigen Nationen stellen. Ziel muss sein, einen tiefgreifenden Wandel in Russland so zu begleiten, dass nationalistische und revanchistische Gefühle nicht mehr aufkommen.

1. Rückzug aus der Ukraine

Erstens muss Russland seinen Krieg mit der Ukraine beenden. Ein Rückzug der Streitkräfte aus den Gebieten, die 2014 und 2022 zu Teilen der Russischen Föderation deklariert wurden, würde allerdings gegen die russische Verfassung verstoßen. Deshalb sollte die derzeitige Föderation aufgelöst und ein neues Staatengebilde geschaffen werden, das Ausstiegsmöglichkeiten für Republiken und Regionen vorsieht.

2. Eine parlamentarische Republik

Zweitens sollte Russland eine Föderation werden, die von unten aufgebaut wird. Russland hat keinen Bedarf an Ländern und Territorien. Es sollte ein überschaubarer Staat sein, der auf der freien Zustimmung der Menschen beruht. Weil sich die neue Föderation aus „ethnischen“ und „territorialen“ Einheiten zusammensetzt, sollte sie zur parlamentarischen Republik mit einem liberalen Wahlsystem werden. Neben dem Parlament steht ein Staatsrat mit Abgeordneten der nationalen Republiken oder Oblaste (Länder). Die Regionen müssen das Recht haben, föderale Wirtschaftsinitiativen auf ihrem Gebiet zu stoppen, Steuern zu erheben und ihre Amtssprache neben der russischen Sprache zu wählen. Der föderale Haushalt sollte drastisch gekürzt werden. Ein großer Teil der Einnahmen aus Öl, Gas und anderen natürlichen Reichtümern sollte in einen unabhängigen Fonds zugunsten aller Bürgerinnen und Bürger fließen.

3. Wirtschaftliche Freiheit

Drittens sollte die neue Regierung wirtschaftliche Freiheiten fördern. Polizei und Bundesbehörden sollten nicht kommerziell tätig werden dürfen. Privateigentum sollte für sämtliche Arten von Vermögenswerten möglich sein, Grund und Boden, Rohstoffe, Flughäfen und Eisenbahnen, Straßen und alle Arten von Unternehmen, auch wenn sie militärischen Zwecken dienen. Der Bundeshaushalt sollte nicht mehr als ein Drittel der gesamten Haushaltseinnahmen umfassen. Das Eigentum von Staatsbediensteten und ihrer Angehörigen sollte eingefroren werden, bis dessen Herkunft geklärt ist.

Der Umbau zum neuen Russland wird Jahrzehnte dauern.

Wladimir Putin ist allgegenwärtig – hier bei einer Militärparade. Wie könnte Russland nach ihm aussehen? 

4. Schluss mit dem Nationalismus

Viertens: Das Land muss entnazifiziert werden. Der Krieg mit der Ukraine entstand aus der Verbreitung des imperialen Konzepts eines „Russentums“ mit einem historischen Russland und einem Volk aus Russen, Weißrussen und Ukrainern. Der Krieg in der Ukraine ist Putins Krieg, so wie der Zweite Weltkrieg Hitlers Krieg war: Eine große Zahl, wenn nicht sogar die Mehrheit der Russen ist bereit, Ukrainer zu töten und zu vergewaltigen, weil sie meinen, ein Recht dazu zu haben. Das neue Russland sollte den Nationalismus verurteilen, alle Kriegsverbrechen untersuchen und die daran Beteiligten bestrafen.

5. Versöhnung mit dem Westen

Das fünfte und wichtigste Thema ist eine tiefgreifende Versöhnung mit dem Westen. Russland sollte die Visafreiheit für die Bürger der USA, der EU und aller OECD-Staaten einführen. Es sollte alle ausländischen Industrieanlagen zurückgeben, die seit 2014 verstaatlicht oder übernommen wurden. Alle russischen Bürgerinnen und Bürger sollten unabhängig von ihrer doppelten Staatsbürgerschaft, von ausländischen Aufenthaltsgenehmigungen und vom Vermögen im Ausland Zugang zu Positionen im öffentlichen Dienst und zu Wahlämtern haben. Die Regierung sollte so viel wie möglich von der EU-Wirtschaftsgesetzgebung übernehmen. So könnte Russland wie Norwegen nicht Teil der Union werden, aber deren Vorschriften und Standards anwenden und sich an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs halten.

Eine Reform des heutigen Russlands wäre ohne eine teilweise „Entsouveränisierung“ unmöglich, wie sie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat. Aus dem Grund sind die Bemühungen des Westens, Russland zu reformieren und ihm aussichtsreiche Perspektiven für einen Beitritt zu den westlichen Institutionen zu bieten, viel wichtiger als alle Versuche der russischen Liberalen und Demokraten, ihr Land zu verändern. Sie hatten ihre Chance in den 1990er-Jahren – und sie haben sie vergeben. Doch würde man Russland heute sich selbst überlassen, dann würde das Land in weniger als zwei Generationen zum Imperialismus zurückkehren.

Wer heute von der Reformierung Russlands spricht, unterschätzt oft das Ausmaß der Aufgabe. Russland ist ein halbfeudaler, nationalistischer Staat, der vom Aggressions- und Expansionsdrang so besessen ist, dass er sich nicht mehr reformieren lässt. Man muss ihn ganz neu gründen. Diese Transformation in eine moderne, nach westlichen Prinzipien organisierte Gesellschaft wird nicht Jahre, sondern Jahrzehnte dauern. Sie ist erst dann vollendet, wenn sich die neuen russischen Behörden der Herausforderung stellen. Und wenn die westlichen Nationen bereit sind, Russland zu helfen.

Wladislaw Inosemzew ist Sonderberater des Memri-Projekts für russische Medienwissenschaft sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau.

Wladislaw Inosemzew ist Sonderberater des Memri-Projekts für russische Medienwissenschaft sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau.

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